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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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geöffnet, doch das half nicht, denn es war ein extrem heißer Tag. Ich war verärgert, nervös und beklagte mich über die Hitze. Don Juan runzelte die Stirn und sah mich spöttisch an.
    »In dieser Jahreszeit ist es überall in Mexiko heiß«, sagte er. »Dagegen kann man nichts machen.«
    Ich schaute ihn nicht an, aber ich wußte, daß er mich anstarrte. Unsere Fahrt wurde schneller, denn es ging bergab.
    Undeutlich nahm ich ein Verkehrszeichen wahr, Vado — Bodenwelle. Als ich die Bodenwelle tatsächlich sah, fuhren wir ziemlich schnell, und obwohl ich abbremste, spürten wir die Erschütterung und wurden auf unseren Sitzen durchgeschüttelt. Ich verringerte die Fahrt erheblich; wir fuhren durch eine Gegend, wo beiderseits der Straße Vieh frei graste, eine Gegend, wo der Kadaver eines von einem Auto überfahrenen Pferdes oder einer Kuh ein gewohnter Anblick war. Einmal mußte ich ganz anhalten, um einige Pferde die Straße überqueren zu lassen. Ich wurde noch unruhiger und nervöser. Ich sagte Don Juan, das sei die Hitze; ich erzählte ihm, daß ich Hitze, seit meiner Kindheit, schon immer verabscheut hatte, weil ich im Sommer immer zu ersticken glaubte und kaum Luft bekam.
    »Du bist jetzt kein Kind mehr«, sagte er. »Die Hitze bringt mich noch immer in Atemnot.«
»Und als ich ein Kind war, brachte mich der Hunger in Atemnot«, sagte er leise. »Sehr hungrig sein, das war das einzige, was ich als Kind kannte, oft bin ich vor Hunger so angeschwollen, daß ich kaum noch atmen konnte. Aber das war damals, als ich ein Kind war. Jetzt passiert es mir nicht mehr, daß ich in Atemnot gerate oder aufschwelle wie eine Kröte, wenn ich hungrig bin.« Ich wußte nichts zu sagen. Ich merkte, daß ich mich in eine unhaltbare Position manövrierte und bald einen Standpunkt vertreten mußte, den ich überhaupt nicht vertreten wollte. Die Hitze war im Grunde gar nicht so schlimm. Was mich störte, war die Vorstellung, mehr als tausend Meilen zu fahren, bis wir unser Ziel erreicht hätten. Ich ärgerte mich bei dem Gedanken an die Anstrengung. »Laß uns anhalten und etwas zum Essen besorgen«, sagte ich. »Vielleicht ist es nicht mehr so heiß, wenn die Sonne untergegangen ist.« Don Juan sah mich an, lächelte und sagte, wir kämen jetzt lange an keiner sauberen Stadt vorbei, und ich würde doch grundsätzlich nichts von den Buden am Straßenrand kaufen. »Fürchtest du dich denn nicht mehr vor der Diarrhöe?« fragte er. Ich bemerkte seinen Sarkasmus, obwohl sein Gesicht immer noch eine fragende und zugleich ernste Miene trug. »So wie du dich aufführst«, sagte er, »könnte man meinen, da draußen sitzt die Diarrhöe und lauert nur darauf, daß du aus dem Auto steigst, um dich anzuspringen. Du bist in einer schrecklichen Zwickmühle; wenn du der Hitze entkommen willst, dann erwischt dich am Ende die Diarrhöe.« Don Juan sagte dies mit so ernster Stimme, daß ich lachen mußte. Dann fuhren wir einige Zeit schweigend weiter. Als wir einen Rastplatz mit dem Namen Los Vidrios - Glas - erreichten, war es bereits ziemlich dunkel. Don Juan rief vom Wagen aus: »Was gibt's heute bei euch zu essen?«
»Schweinefleisch«, rief eine Frau von drinnen zurück. »Ich hoffe für dich, daß das Schwein erst heute auf der Straße überfahren wurde«, sagte Don Juan lachend. Wir stiegen aus. Die Straße war zu beiden Seiten von niedrigen Bergketten eingerahmt -offenbar die erstarrte Lava eines gigantischen Vulkanausbruchs. In der Dunkelheit hoben sich die schwarzen zackigen Gipfel wie riesige, bedrohliche Mauern aus Glassplittern ab.
    Beim Essen erzählte ich Don Juan, ich könne mir denken, warum dieser Ort den Namen Glas trug. Meiner Meinung nach ging der Name offensichtlich auf die Glassplitterform der Berge zurück.
    Don Juan sagte in überzeugendem Ton, daß der Ort den Namen Los Vidrios trug, weil sich an dieser Stelle ein mit Glas beladener Lastwagen überschlagen hatte und die Glassplitter jahrelang neben der Straße liegengeblieben waren. Ich glaubte, er wolle mich auf den Arm nehmen und bat ihn, mir zu sagen, ob dies wirklich der Grund sei.
    »Warum fragst du nicht jemand von hier?« meinte er. Ich fragte einen Mann, der am Nebentisch saß. Der entschuldigte sich aber und sagte, er wisse es nicht. Ich ging in die Küche und fragte die Frauen, aber auch sie wußten es nicht. Sie sagten, der  Platz hieße eben einfach Glas. »Ich glaube, ich habe recht«, sagte Don Juan leise. »Die Mexikaner haben nicht die Gabe, die Dinge

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