Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
Vom Netzwerk:
die ein eiähnliches Gebilde formen. Er habe mir auch schon einmal gesagt, fuhr er fort, daß der erstaunlichste Teil der eiförmigen Lebewesen ein Bündel langer Fasern sei, die aus einer Stelle neben dem Nabel herauskommen. Don Juan sagte, daß diese Fasern für das Leben eines Menschen von größter Wichtigkeit seien. Diese Fasern waren das Geheimnis von Don Genaros Balance, und seine Lektion hatte nichts mit akrobatischen Sprüngen über den Wasserfall zu tun. Sein Gleichgewichtsakt entsprach der Art, wie er diese tentakelartigen Fasern einsetzte. Don Juan ließ das Thema so plötzlich fallen, wie er es begonnen hatte, und begann von etwas völlig anderem zu sprechen.  
24. Oktober 1968
    Ich bedrängte Don Juan und sagte ihm, ich wüßte intuitiv, daß ich nie wieder eine Lektion über das Gleichgewicht erhalten würde und daß er mir alle sachdienlichen  Einzelheiten erklären solle, die ich sonst niemals selbst entdecken würde. Don Juan sagte, daß ich insofern recht hatte, als daß Don Genaro mir nie wieder eine Lektion geben würde. »Was willst du noch wissen?« fragte er. »Was sind diese tentakelartigen Fasern, Don Juan?«
»Es sind die Tentakeln, die aus dem Körper eines Menschen kommen und die für jeden Zauberer, der sieht, sichtbar sind. Zauberer beurteilen Menschen je nach dem, wie sie deren Tentakeln sehen. Schwache Menschen haben sehr kurze, beinah unsichtbare Fasern; starke Menschen haben strahlende, lange. Genaros Fasern zum Beispiel sind so strahlend hell wie dick. An den Fasern kann man erkennen, ob ein Mensch gesund oder krank, böse, freundlich oder betrügerisch ist. An den Fasern erkennt man auch, ob ein Mensch sehen kann. Aber eine Sache verblüfft mich wirklich: Als Genaro dich sah, wußte er, genau wie mein Freund Vicente, daß du sehen kannst. Wenn ich dich sehe, dann sehe ich, daß du sehen kannst, und trotzdem weiß ich, daß du es nicht kannst. Einfach verblüffend. Genaro kam nicht darüber hinweg. Ich sagte ihm, daß du ein komischer Kerl bist. Ich glaube, er wollte das selbst herausfinden und nahm dich deshalb zum Wasserfall mit.«
»Warum glaubst du, daß ich den Eindruck mache, ich könnte sehen?«
    Don Juan schwieg lange. Er antwortete nicht. Ich wollte ihn schon etwas anderes fragen, als er schließlich doch sprach und sagte, daß er wisse warum, nur wisse er nicht, wie er es mir erklären solle.
    »Du glaubst, daß alles auf der Welt leicht zu verstehen ist«, sagte er, »weil alles, was du tust, Routine ist, einfach und verständlich. Am Wasserfall, als du zuschautest, wie Genaro das Wasser überquerte, glaubtest du, daß er ein Meister im Purzelbaumschlagen sei, weil du nichts anderes denken konntest als Purzelbäume. Und du wirst immer glauben, er hätte nichts anderes getan. Aber Genaro ist nie über dieses Wasser gesprungen. Wäre er gesprungen, dann wäre er gestorben. Genaro balancierte auf seinen herrlichen, strahlenden Fasern. Er machte sie lang, so lang, daß er sich gewissermaßen über den Wasserfall hangeln konnte. Er demonstrierte, wie man diese Tentakeln richtig lang macht und wie man sich präzise mit ihnen fortbewegen kann.
    Pablito sah nahezu alle Bewegungen Genaros. Nestor dagegen sah nur die offenkundigsten Handlungen. Die kleinen Einzelheiten entgingen ihm. Du aber, du hast überhaupt nichts gesehen.«
    »Vielleicht, Don Juan, wenn du mir im voraus erzählt hättest, worauf ich achten soll... «
    Er unterbrach mich und sagte, daß es Don Genaro nur behindert hätte, wenn er mir Anleitungen gegeben hätte. Hätte ich gewußt, was passiert, dann wären meine Fasern erregt worden und hätten Don Genaros Fasern gestört. »Wenn du sehen könntest«, sagte er, »wäre es dir schon bei den ersten Schritten, die Genaro machte, klargewesen, daß er nicht ausrutschte, als er neben dem Wasserfall hinaufstieg. Er löste seine Tentakeln. Zweimal schlang er sie um Felsblöcke und klebte wie eine Fliege am nackten Felsen. Als er oben anlangte und im Begriff war, das Wasser zu überqueren, konzentrierte er sie auf einen kleinen Felsen in der Mitte des Flusses, und als sie dort sicheren Halt hatten, zog er sich an den Fasern hinüber. Genaro ist nie gesprungen, deshalb konnte er auf der glitschigen Oberfläche der kleinen Steine direkt am Rand des Wasserfalls landen. Seine Fasern waren die ganze Zeit fest um die Felsen gewickelt, die er benutzte. Auf dem ersten Felsen blieb er nicht sehr lange, weil er die übrigen Fasern um einen anderen, noch kleineren gewickelt

Weitere Kostenlose Bücher