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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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hatte -an der Stelle, wo die Strömung des Wassers am heftigsten war. Seine Tentakeln zogen ihn wieder hinüber und er landete dort. Und das war seine erstaunlichste Leistung. Die Oberfläche war zu klein, als daß ein Mann sich dort hätte halten können. Die Strömung des Wassers hätte seinen Körper in den Abgrund gerissen, wären nicht ein paar seiner Fasern immer noch am ersten Felsen befestigt gewesen. An dieser zweiten Stelle blieb er länger, weil er seine Tentakeln wieder ausstrecken und sie zur anderen Seite des Wasserfalls senden mußte. Nachdem er sie dort festgemacht hatte, mußte er die Fasern lösen, die am ersten Felsen hafteten. Das war sehr kompliziert. Wahrscheinlich kann nur Genaro so etwas tun. Beinah hätte er den Halt verloren; oder vielleicht hielt er uns nur zum Narren. Das werden wir nie genau wissen. Ich selbst glaube, daß er beinah den Halt verloren hätte. Ich weiß dies, weil er erstarrte und einen gewaltigen Stoß von Lichtstrahlen über das Wasser schickte. Ich glaube, daß schon dieser Strahl allein ihn hätte hinüberziehen können. Als er drüben anlangte, stand er aufrecht und ließ seine Fasern leuchten wie Lichtbündel. Und das tat er nur für dich. Wenn du hättest sehen können, dann hättest du es gesehen. Genaro stand dort und schaute dich an, und er wußte, daß du Ihn nicht gesehen hattest.«

Teil II Der Weg des Sehens
7.
    Don Juan war nicht zu Hause, als ich am 8. November 1968 gegen Mittag eintraf. Ich hatte keine Ahnung, wo ich ihn suchen sollte, daher setzte ich mich hin und wartete. Ich hatte die unbestimmte Gewißheit, daß er bald nach Hause kommen würde. Bald darauf kam Don Juan herein. Er nickte mir zu. Wir begrüßten uns. Er schien müde zu sein und legte sich auf seine Matte. Er gähnte ein paarmal. Der Gedanke an das Sehen hatte mich unablässig verfolgt, so war ich zu dem Entschluß gekommen, seine halluzinogene Rauchmixtur wieder zu benutzen. Diese Entscheidung war mir furchtbar schwergefallen, darum wollte ich mich noch etwas eingehender über dieses Thema unterhalten.
    »Ich möchte sehen lernen, Don Juan«, sagte ich unumwunden.
    »Aber ich möchte wirklich nichts einnehmen; ich möchte nicht deine Mixtur rauchen.
    Glaubst du, es ist möglich, daß ich ohne sie sehen lernen kann?«
    Er stand auf, starrte mich einen Moment an und legte sich wieder hin.
    »Nein!« sagte er. »Du wirst den Rauch benutzen müssen.«
    »Aber du sagtest, daß ich bei Don Genaro im Begriff stand zu sehen.«
    »Ich meinte, daß etwas in dir leuchtete, als ob dir wirklich bewußt wäre, was Genaro  tat. Aber du schautest nur einfach hin. Anscheinend gibt es bei dir etwas, das dem Sehen ähnlich ist, aber es ist nicht das Sehen. Du bist verklemmt, und nur der Rauch kann dir helfen.«
    »Warum muß man rauchen? Warum kann man nicht einfach von sich aus sehen lernen? Ich habe ein sehr ernstes Verlangen. Genügt das nicht?«
    »Nein, das genügt nicht. Sehen ist nicht so einfach, und nur der Rauch kann dir die Schnelligkeit geben, die du brauchst, um einen Blick auf diese flüchtige Welt zu werfen. Sonst würdest du nur schauen.«
    »Was verstehst du unter einer flüchtigen Welt?«
»Wenn du siehst, dann ist die Welt nicht so, wie du jetzt glaubst, daß sie sei. Es ist eher eine flüchtige Welt, die sich bewegt und verändert. Vielleicht kann man von selbst lernen, diese flüchtige Welt zu erkennen, aber das ist nicht gut, weil der Körper der Belastung nicht gewachsen ist. Mit dem Rauch dagegen leidet man nie unter Erschöpfung. Der Rauch gibt einem die nötige Schnelligkeit, um die flüchtige Bewegung der Welt zu erfassen, und gleichzeitig erhält er den Körper und seine Kraft intakt.«
    »Nun gut!« sagte ich mit einer dramatischen Geste. »Ich will nicht länger um den heißen Brei herumgehen. Ich werde rauchen.«
    Er lachte über meine theatralische Eröffnung. »Nicht so schnell«, sagte er. »Du hängst dich immer an die falschen Dinge. Jetzt glaubst du, du brauchtest nur zu beschließen, dich vom Rauch führen zu lassen, um auch schon zu sehen. Dazu ist viel mehr nötig. Bei allem ist immer viel mehr nötig.« Er wurde einen Augenblick ernst.
    »Ich bin sehr vorsichtig mit dir umgegangen, und meine Handlungen waren immer wohlüberlegt«, sagte er, »weil es Mescalitos Wunsch ist, daß du mein Wissen verstehst. Aber ich weiß, daß ich nicht die Zeit haben werde, dich alles zu lehren, was ich möchte. Ich werde nur die Zeit haben, dich auf den Weg zu führen, und muß

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