Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
saßen, schien der Scheitel des Wasserfalls sechs bis sieben Meter breit. Don Genaro stand einen Augenblick bewegungslos da. Ich wollte Don Juan fragen, was Don Genaro dort oben vorhatte, aber Don Juan schien so stark von der Beobachtung in Anspruch genommen, daß ich nicht wagte, ihn zu stören. Plötzlich sprang Don Genaro über das Wasser. Das geschah so völlig unerwartet, daß ich ein leeres Gefühl im Magen hatte. Es war ein wundervoller, fremdartiger Sprung. Eine Sekunde lang hatte ich ganz deutlich den Eindruck, als sähe ich eine »Reihe von übereinandergelagerten Abbildern seines Körpers, die in einer elliptischen Kurve zur Mitte des Flusses flogen. Als meine Überraschung sich gelegt hatte, bemerkte ich, daß er auf einem Felsen direkt an der Kante des Wasserfalls gelandet war, einem Felsen, der von dort, wo wir saßen, kaum zu sehen war.
Dort oben hockte er längere Zeit. Er schien gegen die Gewalt des anströmenden Wassers anzukämpfen. Zweimal hing er über dem Abgrund, und ich konnte nicht erkennen, woran er sich festhielt. Er gewann das Gleichgewicht wieder und hockte auf dem Felsen. Dann sprang er wie ein Tiger weiter. Ich konnte kaum den nächsten Felsen sehen, auf dem er landete. Es war ein kleiner Kegel direkt an der Kante des Wasserfalls. Dort verharrte er beinah zehn Minuten, ohne sich zu bewegen. Seine Bewegungslosigkeit war so eindrucksvoll, daß ich zitterte. Ich wollte aufstehen und ein paar Schritte gehen. Don Juan bemerkte meine Nervosität und herrschte mich an, ruhig zu sein.
Don Genaros Ruhe löste in mir einen ungewöhnlichen und mysteriösen Schrecken aus. Ich hatte das Gefühl, ich mußte die Beherrschung verlieren, wenn er länger dort hockenblieb.
Plötzlich sprang er weiter, diesmal ganz hinüber zum anderen Ufer des Wasserfalls. Er landete wie eine Katze auf Händen und Füßen. Er blieb einen Moment in hockender Stellung, dünn stand er auf und schaute über den Wasserfall hinweg zum anderen Ufer und dann zu uns. Er blieb totenstarr, als er uns anschaute. Seine Hände waren seitlich geballt, als hielte er sich an einem unsichtbaren Geländer fest. In seiner Haltung lag irgendwie etwas wirklich Überwältigendes. Sein Körper wirkte so gewandt, so fragil. Ich dachte, daß Don Genaro mit seinem Stirnband und den Federn, seinem dunklen Poncho und den nackten Füßen der schönste Mensch war, den ich je gesehen hatte.
Plötzlich warf er die Arme empor, hob den Kopf und schnellte mit einer Art seitlichem Salto nach links. Er hatte auf einem runden Felsen gestanden, hinter dem er mit seinem Sprung verschwunden war.
In diesem Augenblick fielen riesige Regentropfen vom Himmel. Don Juan stand auf, und die beiden jungen Männer taten dasselbe. Sie bewegten sich so abrupt, daß es mich verwirrte. Don Genaros meisterhafte Leistung hatte mich in einen Zustand tiefer emotioneller Erregung versetzt. Ich hielt ihn für einen vollkommenen Künstler und wollte ihn sofort sehen, um ihm Beifall zu spenden.
Ich spähte angestrengt zur linken Seite des Wasserfalls, um zu sehen, ob er herunterkam, aber das war nicht der Fall. Ich wollte unbedingt wissen, was mit ihm geschehen war. Don Juan antwortete nicht.
»Wir sollten lieber schnell von hier verschwinden«, sagte er. »Es ist ein regelrechter Wolkenbruch. Wir müssen Nestor und Pablito zu Hause absetzen, und dann müssen wir uns auf die Rückreise machen.«
»Und ich habe Don Genaro nicht mal Aufwiedersehn gesagt«, beschwerte ich mich. »Er hat dir schon Aufwiedersehn gesagt«, antwortete Don Juan knapp. Er schaute mich einen Moment an, und dann verschwand seine düstere Miene und er lächelte. »Er hat dir auch alles Gute gewünscht«, sagte er. »Er hat sich gefreut, dich zu sehen.«
»Aber wollen wir nicht auf ihn warten?«
»Nein«, sagte Don Juan scharf. »Laß ihn, wo er ist. Vielleicht ist er ein Adler, der in die andere Welt fliegt, oder vielleicht ist er dort oben gestorben. Das ist jetzt gleichgültig.«
23. Oktober 1968
Don Juan erwähnte beiläufig, daß wir bald wieder eine Fahrt nach Zentralmexiko unternehmen würden. »Willst du Don Genaro besuchen?« fragte ich. »Vielleicht«, sagte er, ohne mich anzuschauen. »Es geht ihm doch gut, nicht wahr, Don Juan? Ich meine, es ist ihm da oben am Wasserfall nichts passiert, oder?«
»Ihm ist nichts passiert; er ist robust.«
Wir sprachen eine Weile über die geplante Reise, und ich sagte, daß ich Don Genaros Gesellschaft und seine Späße sehr genossen hatte. Er lachte
Weitere Kostenlose Bücher