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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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und sagte, Don Genaro sei wirklich wie ein Kind. Dann entstand eine lange Pause. Ich strengte meinen Kopf an, um mir eine einleitende Frage über Don Genaros Lektion auszudenken. Don Juan sah mich an und sagte boshaft: »Du brennst wohl darauf, mich nach Don Genaros Lektion zu fragen, nicht wahr?« All das, was am Wasserfall geschehen war, verfolgte mich in Gedanken. Ich hatte mir alle Einzelheiten, an die ich mich erinnern konnte, immer wieder durch den Kopf gehen lassen und war zum Schluß gekommen, daß ich Zeuge einer unglaublichen Leistung körperlicher Verwegenheit gewesen war. Don Genaro war zweifellos ein unerreichter Meister des Gleichgewichts. Jede seiner Bewegungen war höchst ritualisiert und, überflüssig zu sagen, mußte eine mir unerklärliche symbolische Bedeutung haben. »Ja«, sagte ich, »ich gebe zu, daß ich darauf brenne, zu erfahren, was seine Lektion war.«
    »Ich will dir was sagen«, sagte Don Juan. »Das ist Zeitverschwendung für dich. Seine Lektion war für jemanden bestimmt der sehen kann. Pablito und Nestor begriffen das Wesentliche an der Sache, obwohl sie nicht gut sehen können. Al»er du, du hast einfach nur geschaut. Ich hatte Don Genaro erzählt, daß du ein ganz hirnvernagelter Narr bist und daß dir durch seine Lektion vielleicht die Augen geöffnet würden, aber das geschah nicht. Nun, es ist egal. Sehen ist sehr schwierig, Ich wollte nicht, daß du hinterher mit Genaro sprichst, daher mußten wir wegfahren. Leider. Aber es wäre noch schlimmer gewesen, wenn wir dageblieben wären. Genaro hat eine Menge riskiert, um dir etwas Wunderbares zu zeigen. Zu schade, daß du nicht sehen kannst.«
    »Wenn du mir erzählst, was seine Lektion war, vielleicht würde ich dann feststellen, daß ich wirklich gesehen habe.« Don Juan platzte vor Lachen heraus. »Das beste an dir sind deine Fragen«, sagte er. Offenbar wollte er das Thema wieder fallenlassen. Wir saßen, wie üblich, auf dem Platz vor seinem Haus. Plötzlich stand er auf und ging hinein. Ich ging hinter ihm her und wollte ihm unbedingt erzählen, was ich gesehen hatte. Getreulich zählte ich die Reihenfolge der Ereignisse auf, an die ich mich erinnerte. Don Juan lächelte beharrlich, während ich sprach. Als ich fertig war, schüttelte er den Kopf. »Sehen ist sehr schwierig«, sagte er. Ich bat ihn, mir diese Bemerkung zu erklären. »Sehen hat nichts mit reden zu tun«, sagte er gebieterisch. Offenbar wollte er nichts mehr sagen, darum gab ich auf und ging aus dem Haus, um einige Besorgungen für ihn zu machen. Als ich zurückkehrte, war es schon dunkel. Wir aßen etwas, und anschließend gingen wir auf die ramada hinaus. Kaum saßen wir, da begann Don Juan über Don Genaros Lektion zu sprechen. Er ließ mir keine Zeit, mich darauf vorzubereiten. Ich hatte meinen Notizblock dabei, aber es war zu dunkel, um zu schreiben, und ich wollte seine Rede nicht dadurch unterbrechen, daß ich ins Haus ging, um die Kerosinlampe zu holen. Er sagte, daß Don Genaro, als ein Meister des Gleichgewichts, sehr komplizierte und schwierige Bewegungen ausführen konnte. Eine davon war das Auf-dem-Kopf-Sitzen, damit hatte er mir zeigen wollen, daß es unmöglich war zu sehen, wenn man sich dabei Notizen machte. Aber das Auf-dem-Kopf-Sitzen ohne Zuhilfenahme der Hände war bestenfalls eine ausgefallene Schaunummer, die nur einen Moment dauerte. Für Genaro war es dasselbe, wie über das Sehen zu schreiben. Das heißt, es war unsinnig, ebenso verrückt und unnötig wie das Auf-dem-Kopf-Sitzen. Don Juan starrte mich in der Dunkelheit an und sagte dann mit sehr erregter Stimme, daß ich nahe daran gewesen sei zu sehen, während Don Genaro herumalberte und auf dem Kopf saß. Don Genaro hatte dies bemerkt und seine Manöver immer wieder wiederholt, aber ohne Nutzen, weil ich den Faden sofort wieder verloren hatte. Don Juan sagte, daß Don Genaro daraufhin, angetrieben durch seine persönliche Vorliebe für mich, in sehr dramatischer Form versucht hatte, mich wieder an diesen Rand des Sehens heranzuführen. Nach sorgfältiger Überlegung hatte er beschlossen, mir einen Gleichgewichtsakt zu zeigen, indem er den Wasserfall überquerte. Er fand, daß der Wasserfall genau wie der Rand war, vor dem ich stand, und war überzeugt, daß ich ihn überqueren konnte.
    Dann erklärte mir Don Juan Don Genaros Kunststück. Er sagte, er habe mir bereits erzählt, daß Menschen für den, der sieht, leuchtende Wesen waren, bestehend aus einer Art kreisender Lichtfasern,

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