Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
Erinnerungskraft mich zurückführte in die Zeit, als ich acht Jahre alt war. Meine Mutter hatte uns zwei Jahre zuvor verlassen und ich verbrachte die furchtbarsten Jahre meines Lebens, als ich unter den Schwestern meiner Mutter herumgereicht wurde, die sich als pflichtbewußter Mutterersatz jeweils für ein paar Monate meiner annahmen. Alle meine Tanten hatten große Familien, und ganz gleich, wie fürsorglich und schützend die Tanten sich mir gegenüber verhielten, mußte ich mich doch gegen zweiundzwanzig Cousinen und Cousins behaupten. Ihre Grausamkeit war manchmal wirklich grotesk. Damals fühlte ich mich von Feinden umgeben, und in diesen qualvollen Jahren führte ich einen verzweifelten und schäbigen Krieg. Wie es mir gelang, weiß ich bis heute nicht, aber schließlich besiegte ich alle meine Vettern. Ich war wirklich Sieger. Ich hatte keine ernst zu nehmenden Rivalen mehr. Trotzdem wußte ich dies nicht, auch wußte ich nicht, wie ich meinen Krieg beenden sollte, der sich logischerweise auch auf die Schule ausweitete.
In der Landschule, die ich besuchte, waren mehrere Klassen in einem Zimmer untergebracht, und die erste und dritte Klasse waren nur durch einen Zwischenraum zwischen den Bänken voneinander getrennt. Dort traf ich auch einen kleinen Jungen mit einer flachen Nase, der mit dem Spitznamen »Knopfnase« gehänselt wurde. Er war ein Erstkläßler. Ich quälte ihn gedankenlos, ohne es wirklich zu wollen. Aber anscheinend mochte er mich, trotz allem, was ich ihm antat. Er folgte mir überallhin und behielt sogar das Geheimnis für sich, daß ich für manche Streiche, die den Direktor aus der Fassung brachten, verantwortlich war. Und trotzdem hänselte ich ihn. Eines Tages warf ich absichtlich eine schwere Standtafel um. Sie fiel auf ihn. Das Pult, an dem er saß, fing einen Teil der Wucht auf, aber trotzdem brach er sich durch den Aufprall das Schlüsselbein. Er fiel hin. Ich half ihm auf und sah den Schmerz und die Angst in seinen Augen, als er mich anschaute und sich an mir festhielt. Der Schock, seinen Schmerz und seinen zerquetschten Arm zu sehen, war mehr, als ich ertragen konnte. Jahrelang hatte ich gesiegt und gegen meine Vettern gekämpft und gewonnen. Ich hatte alle Gegner überwunden. Ich fühlte mich gut und stark bis zu dem Augenblick, als der Anblick des weinenden kleinen knopfnasigen Jungen meine Siege zunichte machte. In diesem Augenblick gab ich meinen Kampf auf. Ich faßte den Entschluß, daß ich, soweit es von mir abhing, nie wieder siegen wollte. Ich glaubte, daß ihm der Arm abgenommen werden mußte, und ich gelobte, daß ich nie wieder siegen wollte, wenn nur der kleine Junge geheilt würde. Ich gab meine Siege für ihn hin. Damals jedenfalls verstand ich es so. Don Juan hatte eine eiternde Wunde meines Lebens geöffnet. Mir war schwindlig, und ich war überwältigt. Ich versank in einer Woge hemmungsloser Trauer und überließ mich ihr. Ich litt unter dem Gewicht meiner Taten. Die Erinnerung an diesen kleinen knopfnasigen Jungen, sein Name war Joaquin, bereitete mir so heftige Qualen, daß ich weinte. Ich erzählte Don Juan, wie sehr mir dieser Junge leid tat, der niemals etwas besessen hatte, dieser kleine Joaquin, der kein Geld hatte, um zum Arzt zu gehen, und dessen Arm nie wieder richtig anwachsen würde. Und alles, was ich ihm geben konnte, waren meine kindlichen Siege. Ich schämte mich so sehr. »Sei jetzt ruhig, du komischer Vogel«, sagte Don Juan gebieterisch. »Du hast genug gegeben. Deine Siege waren stark, und sie gehörten dir. Du hast genug gegeben. Jetzt mußt du dein Versprechen ändern.«
»Wie kann ich es ändern? Genügt es, das einfach so zu sagen?«
»Ein Versprechen wie dieses kann nicht einfach dadurch geändert werden, daß man es nur so sagt. Vielleicht wirst du sehr bald wissen, was du tun kannst, um es zu ändern. Dann wirst du vielleicht auch sehen lernen.«
»Kannst du mir nicht einen Vorschlag machen, Don Juan?«
»Du mußt geduldig warten und wissen, daß du wartest, und wissen, worauf du wartest. Das ist die Art des Kriegers. Und wenn es darum geht, dein Versprechen zu erfüllen, dann mußt du dir bewußt sein, daß du es erfüllst. Dann wird die Zeit kommen, wo dein Warten vorbei ist und du dein Versprechen nicht mehr erfüllen mußt. Es gibt nichts, was du für das Leben dieses kleinen Jungen tun könntest. Nur er kann die Tat ungeschehen machen.«
»Aber wie kann er das?«
»Indem er lernt, seine Bedürfnisse auf ein Nichts zu
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