Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
Hut«, führte er mich scherzhaft in Versuchung. Ich erläuterte meinen Standpunkt voller Aufrichtigkeit. Don Juan wurde ernst. Er kniff die Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen. Er sagte, wenn ich mein Leben für eine Niederlage hielt, dann nur aus anderen Gründen als der Niederlage selbst. Dann nahm er sehr schnell und völlig unerwartet meinen Kopf zwischen seine Hände, wobei er die Handflächen an meine Schläfen legte. In seinen Augen lag ein wilder Ausdruck, als er in die meinen blickte. Vor Angst machte ich unwillkürlich einen tiefen Atemzug durch den Mund. Er ließ meinen Kopf los und lehnte sich, mich immer noch anstarrend, an die Wand. Er hatte diese Bewegungen mit einer derartigen Schnelligkeit ausgeführt, daß ich noch nicht wieder ausgeatmet hatte, als er schon entspannt und bequem an der Wand lehnte. Ich fühlte mich benommen und unbehaglich. »Ich sehe einen kleinen Jungen weinen«, sagte Don Juan nach einer Weile.
Er wiederholte diesen Satz mehrmals, als ob ich nicht recht verstünde. Ich glaubte, er spräche über mich als weinenden kleinen Jungen, darum achtete ich nicht sonderlich auf das, was er sagte.
»He!« sagte er, um meine volle Aufmerksamkeit herauszufordern. »Ich sehe einen kleinen Jungen weinen.« Ich fragte ihn, ob ich dieser kleine Junge sei. Er sagte nein. Dann fragte ich ihn, ob es eine Vision aus meinem Leben oder nur eine Erinnerung aus seinem Leben sei. Er antwortete nicht.
»Ich sehe einen kleinen Jungen«, sagte er wieder. »Und er weint und weint.«
»Ist es ein Junge, den ich kenne?« fragte ich. »Ja.«
»Ist es mein kleiner Junge?«
»Nein.«
»Weint er jetzt?«
»Er weint jetzt«, sagte er mit Überzeugung. Ich glaubte, daß Don Juan eine Vision von einem kleinen Jungen hatte, den ich kannte und der gerade in diesem Moment weinte. Ich nannte ihm die Namen aller Kinder, die ich kannte, aber er sagte, diese Kinder hätten nichts mit meinem Versprechen zu tun, wohingegen das weinende Kind in einem sehr wichtigen Zusammenhang damit stand.
Was Don Juan sagte, klang ungereimt. Er hatte gesagt, daß ich in meiner Kindheit jemandem ein Versprechen gegeben hätte, und daß das Kind, das in diesem Augenblick weinte, wichtig für mein Versprechen sei. Ich sagte ihm, daß er sich nicht verständlich ausdrückte. Er wiederholte ruhig, daß er einen kleinen Jungen sehe, der in diesem Moment weinte, und daß der kleine Junge verletzt war.
Ich gab mir ernstlich Mühe, seine Bemerkungen in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen, aber sie paßten mit keiner mir bekannten Tatsache zusammen. »Ich gebe auf«, sagte ich. »Ich kann mich nicht erinnern, jemandem ein wichtiges Versprechen gegeben zu haben, am wenigsten einem Kind.«
Er kniff wieder die Augen zusammen und sagte, daß dieser bestimmte Junge, der genau in diesem Augenblick weinte, ein Kind aus meiner Kindheit sei.
»Er war zu meiner Kindheit ein Kind und weint jetzt immer noch?« fragte ich.
»Er ist ein Kind, das jetzt weint«, beharrte er. »Ist dir klar, was du da sagst, Don Juan?«
»Ja.«
»Aber das ergibt keinen Sinn. Wie kann es jetzt ein Kind sein, wenn es das schon war, als ich selbst noch ein Kind war?«
»Er ist ein Kind, und gerade jetzt weint er«, sagte er unbeirrt. »Erkläre mir das, Don Juan.«
»Nein, du mußt es mir erklären.«
Auch wenn es um mein Leben gegangen wäre, hätte ich nicht herausfinden können, was er meinte.
»Er weint! Er weint!« sagte Don Juan immer wieder in hypnotisierendem Ton. »Und jetzt umarmt er dich. Er ist verletzt! Er ist verletzt! Und er schaut dich an. Spürst du seinen Blick? Er kniet und umarmt dich. Er ist jünger als du. Er ist dir entgegengelaufen. Aber sein Arm ist gebrochen. Spürst du seinen Arm? Dieser kleine Junge hat eine Nase, die wie ein Knopf aussieht. Ja! Das ist eine Knopfnase.« Meine Ohren begannen zu summen, und ich verlor das Gefühl, mich in Don Juans Haus zu befinden. Das Wort »Knopfnase« entführte mich in eine Szene aus meiner Kindheit. Ich kannte einen knopfnasigen Jungen. Don Juan hatte sich zu einem der dunkelsten Punkte meines Lebens vorgetastet. Jetzt wußte ich, von welchem Versprechen er redete. Mich überkam ein Gefühl der freudigen Erregung, der Hoffnungslosigkeit, der Ehrfurcht für Don Juan und sein großartiges Manöver. Wie, zum Teufel, konnte er etwas über den knopfnasigen Jungen aus meiner Kindheit wissen? Die Erinnerung, die Don Juan in mir wachgerufen hatte, erregte mich so stark, daß meine
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