Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
sprechen. Seine Augen waren immer noch geschlossen, und ich entdeckte auf seinen Lippen ein ganz leichtes Zittern. Eine tiefe Traurigkeit ergriff mich. Bilder aus meiner eigenen Kindheit zogen an meinem inneren Auge vorbei.
»Wie alt warst du damals, Don Juan?« fragte ich, nur um meine Traurigkeit zu verscheuchen.
»Etwa sieben. Es war die Zeit der großen Yaqui-Kriege. Die mexikanischen Soldaten überfielen uns, wir wurden überrascht, meine Mutter kochte gerade Essen. Sie war eine hilflose Frau. Sie töteten sie ohne jeden Grund. Es macht eigentlich keinen Unterschied, daß sie auf diese Weise starb, nicht wirklich, für mich allerdings doch. Ich kann selbst nicht sagen, warum; es ist einfach so. Ich glaubte, daß sie auch meinen Vater getötet hätten, aber das stimmte nicht. Er war verwundet. Später steckten sie uns wie Vieh in einen Güterzug und schlossen die Türen. Tagelang hielten sie uns dort wie Tiere im Dunkeln eingesperrt. Wir hielten uns mit dem wenigen am Leben, das sie uns von Zeit zu Zeit in den Waggon warfen. Mein Vater starb in diesem Waggon an seinen Wunden. Vor Schmerzen und Fieber kam er ins Delirium und sagte mir immer wieder, ich müsse am Leben bleiben. Das sagte er mir immer wieder, bis zum letzten Augenblick seines Lebens. Die Leute nahmen sich meiner an; sie gaben mir zu essen; eine alte Heilpraktikerin richtete die gebrochenen Knochen meiner Hand. Und wie du siehst, lebe ich noch. Das Leben ist weder gut noch schlecht zu mir gewesen; das Leben war schwer. Das Leben ist schwer, und für ein Kind ist es manchmal das reine Grauen.«
Sehr lange sprachen wir kein Wort. Vielleicht eine Stunde verstrich in völligem Schweigen. Ich hatte sehr verwirrende Gefühle. Ich war irgendwie niedergeschlagen, und doch konnte ich nicht sagen warum. Ich hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen. Gerade noch hatte ich nur mit Don Juan einen Spaß machen wollen, doch plötzlich hatte er mit dieser direkten Erzählung das Blatt gewendet. Sie war einfach und bündig gewesen, und sie hatte ein seltsames Gefühl in mir hervorgerufen. Die Vorstellung von einem gequälten oder sich quälenden Kind hatte für mich immer schon etwas Erschreckendes. Gleich darauf schlug mein Mitgefühl für Don Juan in Ekel gegen mich selbst um. Ich hatte tatsächlich mitgeschrieben, als sei Don Juans Leben lediglich ein klinischer Fall. Ich war nahe daran, meine Notizen zu zerreißen, als Don Juan mich mit den Zehenspitzen gegen die Wade stieß, um meine Aufmerksamkeit wachzurufen. Er sagte, daß er mich von einem Leuchten der Gewalttätigkeit umgeben sähe und sich fragte, ob ich mich im nächsten Moment auf ihn stürzen wollte. Sein Lachen war eine freundliche Unterbrechung. Er sagte, daß ich zu Gewaltausbrüchen neige, daß ich jedoch nicht wirklich bösartig sei und die Gewalttätigkeit meistens gegen mich selbst richtete.
»Da hast du recht, Don Juan«, sagte ich. »Natürlich«, sagte er lachend. Er forderte mich auf, über meine Kindheit zu sprechen. Ich begann ihm von meinen Jahren der Furcht und Einsamkeit zu erzählen und gab ihm eine Schilderung dessen, was ich als meinen bedingungslosen Kampf ums Überleben und um die Erhaltung meines Verstandes bezeichnete. Er lachte über die Formulierung »Erhaltung meines Verstandes«. Ich sprach lange. Er hörte mit ernstem Gesicht zu. Dann, unvermittelt, »kniffen« mich seine Augen wieder, und ich hörte auf zu sprechen. Nach kurzer Pause sagte er, daß mich noch nie jemand gedemütigt hätte, und das sei der Grund, warum ich nicht wirklich bösartig sei. »Du bist noch nicht besiegt worden«, sagte er. Diese Bemerkung wiederholte er vier- oder fünfmal, darum fühlte ich mich verpflichtet, ihn zu fragen, was er damit meinte. Er erklärte, das Besiegtsein sei eine unvermeidbare Bedingung des Lebens. Die Menschen seien entweder siegreich oder würden besiegt, und je nachdem würden sie zu Verfolgern oder Opfern. Diese zwei Bedingungen gelten, solange man nicht sieht; das Sehen verbannt die Illusion des Sieges, der Niederlage oder des Leidens. Er fügte hinzu, daß ich sehen lernen sollte, solange ich siegreich sei, um zu vermeiden, daß ich mich je daran erinnern mußte, gedemütigt worden zu sein.
Ich wandte ein, daß ich auf keinem Gebiet siegreich sei und es nie gewesen war; und daß mein Leben, wenn überhaupt irgend etwas, bestenfalls eine Niederlage sei. Er lachte und warf seinen Hut auf den Boden. »Wenn dein Leben eine derartige Niederlage ist, dann tritt auf meinen
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