Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
ich mir zum Beispiel bestimmte Dinge versage?«
»Zum Beispiel das Fragen stellen?« warf er ein. Er sagte dies in so schadenfrohem Ton, daß ich aufhörte zu schreiben und ihn anschauen mußte. Wir lachten beide. »Nein«, sagte er. »Wenn du dir etwas versagst, so ist das ein Sichgehenlassen, und so etwas würde ich dir nicht empfehlen. Das ist der Grund, warum ich dich so viele Fragen stellen lasse, wie du nur willst. Wenn ich dir befehlen würde, mit deinen Fragen aufzuhören, dann würdest du durch deine Bemühungen vielleicht deinen Willen verbiegen. Sich etwas zu versagen ist bei weitem die schlimmste Form des Sichgehenlassens; es zwingt uns zu glauben, wir täten große Dinge, während wir in Wirklichkeit nur auf uns selbst fixiert sind. Aufhören Fragen zu stellen, ist nicht der Wille, von dem ich rede. Wille ist eine Macht. Und da er eine Macht ist, muß er kontrolliert und gesteuert werden, und das erfordert Zeit. Ich weiß das, und ich habe Geduld mit dir. Als ich in deinem Alter war, war ich genauso stürmisch wie du. Aber ich habe mich gewandelt. Unser Wille arbeitet, auch wenn wir uns gehenlassen. Zum Beispiel öffnet dein Wille bereits nach und nach deine Öffnung.«
»Über welche Öffnung sprichst du?«
»Wir haben eine Öffnung; ähnlich der weichen Stelle auf dem Kopf eines Kindes, die sich mit zunehmendem Alter schließt, so öffnet sich diese Öffnung, indem man seinen Willen entwickelt.«
»Wo ist diese Öffnung?«
»An der Stelle deiner leuchtenden Fasern«, sagte er und deutete auf seinen Unterleib. »Wie ist sie? Wozu ist sie da?«
»Es ist eine Spalte. Sie erlaubt dem Willen hervorzuschießen wie ein Pfeil.«
»Ist der Wille ein Gegenstand oder wie ein Gegenstand?«
»Nein. Ich habe das nur gesagt, damit du es verstehst. Was ein Zauberer Wille nennt, ist eine Macht in uns. Es ist weder ein Gedanke noch ein Gegenstand noch ein Wunsch. Aufhören Fragen zu stellen, ist nicht Wille, weil dazu ein Gedanke und ein Wunsch notwendig sind. Der Wille ist das, was bewirkt, daß du gewinnen kannst, wenn dein Denken dir sagt, daß du besiegt wirst. Der Wille ist das, was dich unverletzlich macht. Der Wille ist das, was einen Zauberer durch eine Wand, durch den Raum und, wenn er will, auf den Mond führt.« Es gab nichts mehr, was ich fragen wollte. Ich war müde und irgendwie angespannt. Ich befürchtete, daß Don Juan mich auffordern würde, abzufahren, und das ärgerte mich. »Laß uns in die Berge gehen«, sagte er unvermittelt und stand auf.
Unterwegs begann er wieder über den Willen zu sprechen und lachte über meine Bestürzung darüber, daß ich keine Notizen machen konnte. Er beschrieb den Willen als eine Kraft, die das wahre Bindeglied zwischen den Menschen und der Welt sei. Er legte besonderen Nachdruck auf die Feststellung, daß die Welt all das sei, was wir erkennen, in jeder uns beliebenden Form des Erkennens. Don Juan behauptete, daß »die Welt erkennen« die Wahrnehmung all dessen bedeutet, was uns entgegentritt. Dieses bestimmte »Erkennen« geschieht mit unseren Sinnen und mit unserem Willen. Ich fragte ihn, ob der Wille ein sechster Sinn sei. Er sagte, er sei eher eine Beziehung zwischen uns und der erkannten Welt.
Ich schlug vor, wir sollten halten, damit ich mir Notizen machen konnte. Er lachte und ging weiter. An diesem Abend schickte er mich nicht fort, und am nächsten Tag brachte er nach dem Frühstück selbst das Gespräch auf den Willen. »Das, was du Wille nennst, ist Charakter und starke Veranlagung«, sagte er. »Was ein Zauberer Wille nennt, ist eine Kraft, die von innen kommt und sich an die Welt dort draußen heftet. Sie kommt aus dem Bauch, genau dort, wo die leuchtenden Fasern sind.«
Er rieb seinen Nabel, um die Stelle anzudeuten. »Ich sage, daß sie hier rauskommt, weil man spüren kann, wie sie herauskommt.«
»Warum nennst du sie Wille?«
»Ich nenne sie überhaupt nicht irgendwie. Mein Wohltäter nannte sie Wille, und andere Wissende nennen sie Wille.«
»Gestern sagtest du, daß man die Welt sowohl mit den Sinnen als auch mit dem Willen erkennen kann. Wie ist das möglich?«
»Ein Durchschnittsmensch kann die Dinge der Welt nur mit seinen Händen oder seinen Augen oder seinen Ohren greifen, aber ein Zauberer kann sie auch mit seiner Nase oder seiner Zunge oder seinem Willen greifen, besonders mit seinem Willen. Ich kann nicht wirklich beschreiben, wie das geschieht, aber du selbst kannst mir zum Beispiel auch nicht beschreiben, wie du hörst. Zufällig
Weitere Kostenlose Bücher