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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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abbringen und erwähnte, daß ich Berichte über Leute gelesen hatte, die für mehrere Minuten gestorben und durch ärztliche Eingriffe wieder ins Leben gerufen worden waren. In all diesen Fällen, von denen ich gelesen hatte, äußerten sich die Betreffenden beim Wiedererwachen dahingehend, daß sie sich an überhaupt nichts erinnern konnten; daß das Sterben einfach so sei, als gingen die Lichter aus.
    »Das ist vollkommen verständlich«, sagte er. »Der Tod hat zwei Phasen. Die erste ist der >blackout<. Es ist eine bedeutungslose Phase, ganz ähnlich wie die anfängliche Wirkung von Mescalito, bei der man eine Leichtigkeit verspürt, die einem ein Gefühl des Glücks, der Vollkommenheit und der Zufriedenheit mit allem gibt. Aber dies ist nur ein oberflächlicher Zustand. Er schwindet bald, und man betritt einen neuen Bereich, einen Bereich der Härte und Macht. Diese zweite Phase ist die wirkliche Begegnung mit Mescalito. Der Tod ist ganz ähnlich. Die erste Phase ist eine oberflächliche Umnachtung. Die zweite jedoch ist die Phase, da man dem Tod wirklich begegnet. Es ist ein kurzer Moment nach der ersten flüchtigen Umnachtung, man stellt fest, daß man irgendwie wieder man selbst ist. Und genau das ist der Augenblick, in dem der Tod mit seiner ganzen Wut und Macht auf uns einschlägt, bis er unser Leben in Nichts auflöst.«
    »Woher weißt du, daß du wirklich über den Tod sprichst?«
»Ich habe meinen Verbündeten. Der kleine Rauch hat mir mit großer Klarheit und unmißverständlich meinen Tod gezeigt. Darum kann ich nur über den persönlichen Tod sprechen.« Don Juans Worte lösten eine tiefe Angst in mir aus. Ich hatte das Gefühl, er würde mir unverzüglich in allen Einzelheiten meinen Tod beschreiben und mir erzählen, wie oder wann ich sterben würde. Allein die Vorstellung, ich könnte das wissen, machte mich hoffnungslos und reizte gleichzeitig meine Neugier. Natürlich hätte ich ihn bitten können, seinen eigenen Tod zu schildern, aber ich fand, eine solche Frage sei reichlich taktlos, daher verwarf ich sie automatisch.
    Don Juan schien sich an meinem Konflikt zu weiden. Sein Körper bog sich vor Lachen.
    »Möchtest du wissen, wie dein Tod sein wird?« fragte er mich mit kindlich vergnügtem Gesicht.
    Ich fand die Schadenfreude, mit der er mich aufzog, recht beruhigend. Sie vermochte fast meine Ängste zu zerstreuen. »Na gut, erzähl es mir«, sagte ich mit brüchiger Stimme. Er brach in ein gewaltiges Gelächter aus. Er hielt sich den Bauch, ließ sich auf die Seite fallen und wiederholte immer wieder belustigt und mit gebrochener Stimme: »Na gut, erzähl es mir.« Dann streckte er sich, setzte sich in geheuchelt würdiger Haltung aufrecht und sagte mit bebender Stimme: »Die zweite Phase deines Todes könnte folgendermaßen sein.«
    Seine Augen musterten mich mit offensichtlich ehrlicher Neugier. Ich lachte. Ich erkannte deutlich, daß seine Spaßmacherei das einzige Mittel war, um dem Gedanken an den eigenen Tod die Schärfe zu nehmen.
    »Du fährst sehr viel Auto«, sagte er, »daher könntest du in einem bestimmten Augenblick wieder einmal hinter dem Steuer sitzen. Es wird sehr schnell gehen, so daß dir keine Zeit zum Nachdenken bleibt. Plötzlich, sagen wir, wirst du fahren, wie du schon tausendmal gefahren bist. Aber bevor du dazu kommst, dich zu wundern, wirst du ein eigenartiges Gebilde vor deiner Windschutzscheibe bemerken. Wenn du genauer hinsiehst, wirst du feststellen, daß es eine Wolke ist, die wie ein glänzender Wirbel aussieht. Sie wird, sagen wir mal, wie ein Gesicht aussehen — direkt vor dir, mitten am Himmel. Während du es beobachtest, wirst du sehen, wie es zurückweicht, bis es nur noch ein leuchtender Punkt in der Ferne ist, und dann wirst du bemerken, daß es wieder beginnt, sich auf dich zu zubewegen. Es wird schneller werden, und in einem bestimmten Moment wird es gegen die Windschutzscheibe deines Wagens prallen. Du bist stark. Ich glaube, daß der Tod mehrere Streiche gegen dich führen wird, um deiner habhaft zu werden.
    Aber dann wirst du wissen, wo du bist und was mit dir geschieht. Das Gesicht wird sich wieder an eine Stelle am Horizont zurückziehen und dann wieder schneller werden und auf dich einschmettern. Das Gesicht wird in dich hineinfahren, und dann wirst du wissen: es war die ganze Zeit das Gesicht des Verbündeten, oder es war ich, der spricht, oder du, der schreibt. Der Tod war die ganze Zeit nichts. Gar nichts. Er war ein kleiner verlorener

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