Eine angesehene Familie
ihr, sie war eine exzellente Chopin-Interpretin. Und so klingt unser Haus! Noch heute sitzt Maria täglich drei Stunden am Flügel – ein Bösendorfer, ein Geschenk der Fabrik übrigens – und übt die großen Sonaten oder spielt am Sonntagabend ein ganzes Konzert, wobei dann der Orchesterpart als Background von einem Tonband kommt. Das ist wunderbar, ganz ohne Frage. Nur – wenn man das zweiundzwanzig Jahre lang hört und weiß: Morgen ist Sonntag. Morgen spielt sie Mozart. Oder: Am Mittwoch muß Schubert kommen. Wenn sie dann statt Schubert aber Brahms spielt, erschrickt man und fragt: Maria, was ist los? Fühlst du dich nicht wohl? – Ja, so weit ist das schon; man lebt die Tage nach Sonaten und Nocturnes.«
Da hatte Bettina gelacht, es klang so absurd komisch. Aber sie brach ab, als sie Barrenbergs traurige Augen bemerkte. »Verzeihung!« hatte sie gesagt und ihre Hand auf seinen Handrücken gelegt. Er hatte seine Hand umgedreht und ihre schmalen Finger umklammert.
»Dabei liebe ich Musik über alles. Ja, und da war mein Sohn. Georg Marcel – Marcel nach einem Bruder meiner Frau, Champagnerfabrikant in Reims. Sie müssen wissen: Maria ist eine internationale Mischung. Großvater Russe, Großmutter Estin. Emigranten nach der sowjetischen Revolution. Wohin flüchtete ein reicher Russe 1919? Natürlich nach Paris. Großvater Leonid Pantelejewitsch Sakrow, wohnhaft in einem Palais in Petersburg, verdankte seinen Reichtum dem Besitz von drei Salzbergwerken. Der Zarenhof würzte seine Speisen nur mit Sakrowsalz. Die Salzsteine, an denen die kaiserlichen Pferde und die Kühe der großen Güter leckten, lieferte Großvater. In Paris wurde er Portier, trug eine goldbetreßte Uniform und hatte dreiundvierzig Huren und neun Schwule zu bewachen. Ja, das war noch eine Zeit, als die Bordelle wie literarische Salons geführt und zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens erhoben wurden, eingerichtet wie pompöse Hotels! Schließlich wurde Großvater Leonid von einem betrunkenen algerischen Schiffskapitän, den er nicht ins Etablissement lassen wollte, erstochen. Sein Sohn, also der Vater von Maria, heiratete die Erbin einer kleinen Champagnerkellerei. Ein wunderhübsches Mädchen, dessen Mutter Portugiesin war. Er machte aus der Kellerei im Schatten der Großen ein angesehenes Unternehmen, das immerhin viermal die Goldmedaille für den besten Champagner Brut gewann. Er zeugte neun Kinder, was wohl beweisen sollte, wie gesund Champagner ist. Eines davon war meine Frau Maria, ein anderes jener Marcel, der heute die Fabrik führt und nach dem mein Sohn genannt wurde.« Er schwieg, sah Bettina erstaunt an und drückte ihre Hand, die er noch immer umklammerte. »Was haben Sie, Fräulein Ahrendsen? Sie sehen mich an, als hätten Sie nicht verstanden.«
Sie hatte geantwortet: »Im Gegenteil! Ich könnte Ihnen stundenlang zuhören. Das ist eine neue Welt …«
»Jetzt wird es traurig. Ich warne Sie!« Er hatte ihr noch einmal Wein eingeschenkt und legte seine Hand zurück auf die ihre. Es tat ihr gut, sie hatte den Druck vermißt, und als seine Hand wieder auf ihrem Handrücken lag, schloß sich so etwas wie ein Stromkreis, und alles war wieder in Ordnung.
»Georg Marcel wurde einundzwanzig Jahre. Er studierte Jura in Köln, aber viel lieber hockte er auf einer dieser Teufelsmaschinen und fuhr Motocross-Rennen. Je schwieriger und dreckiger, um so schöner! Bis ein Wolkenbruch kam und die Bahn in einen Sumpf verwandelte. Bevor das Rennen abgebrochen werden konnte, wurde Georg aus der Kurve getragen. Wir haben es gesehen. Auf dem Bildschirm. Er wurde mit einer Wolke von Dreck wegkatapultiert, krachte gegen einen Zaun und brach sich das Genick. Der Zaun war schon lange beanstandet worden. Jetzt wurde er abmontiert, aber ich hatte keinen Sohn mehr.«
Von hier ab – so glaubte Bettina ihre Empfindungen später analysieren zu können – war Eduard Barrenberg plötzlich mehr für sie geworden als ein zufälliger Gesprächspartner, mit dem man ein Essen eingenommen hat. Etwas Unerklärliches verband sie mit dem Mann, der sein Glas Wein trank, sich die Lippen mit der Serviette abtupfte und sie mit seinen ruhigen grauen Augen anblickte. Es war kein Mitgefühl, kein Mitleid, kein Mittrauern, kein Trost – es war so etwas wie schicksalhafte Verbundenheit. Sie wußte noch, als sei es gestern geschehen, wie sie sagte: »Es muß furchtbar gewesen sein …« – und wie er geantwortet hatte: »Man muß da hindurch. So grausam es
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