Eine angesehene Familie
aus der Klasse weg, auf die Toilette, habe mich eingeschlossen. Und dann habe ich das Kästchen angesehen, das mir dieser widerliche Makaroff geschenkt hat.
Reines H, eine Spritze, ein Löffel, eine Kerze, Ascorbinsäure als Pulver, dazu noch ein wenig Wasser, das Ganze aufzulösen über der Flamme bis es flüssig wird.
Ich habe mich gewehrt, glaubt es mir doch, ich habe nein! nein! nein! gesagt … Aber dann war das andere stärker, und ich habe auf dem Spülbecken des Klos die Kerze angezündet.
Merkwürdig – ich habe dabei an Freddy gedacht, aber nicht daran, daß er nun tot ist, getötet von diesem weißen Gift, sondern daß ich vieles bei ihm falsch gemacht habe, vor allem die vielen Ermahnungen, er müsse von der Nadel runter! Was soll das Reden? Ich spüre es jetzt selbst: Worte sind ein einziger Scheiß! Nicht Worte helfen, es hilft nur ein Druck. Wenn man auf Turkey kommt, ist einem alles so egal, so ekelhaft. Man müßte einen Fixer kasernieren und langsam von der Nadel entwöhnen. Nicht plötzlich: Schluß, es gibt nichts mehr … Da drehen sie alle durch, da werden sie verrückt und brechen aus wie wilde Tiere. Nein, man müßte sie vielleicht – das ist nur so ein Gedanke von mir – in eine Art Heilschlaf versenken, sie müßten zwei oder drei Wochen schlafen, bis sich der Körper daran gewöhnt hat, daß es kein Dope mehr gibt. Doch was kostet das alles? Ich habe neulich gelesen – ob's stimmt, wer weiß das? –, daß es jetzt in Deutschland fast 100.000 Fixer gibt, in Frankfurt allein über 4.000. Und eine Langzeittherapie, von der man noch nicht einmal weiß, ob sie hilft, kostet für jeden zwischen 300.000 und 500.000 Mark! Wer soll das bezahlen? Das wären ja Milliarden Mark, nur für Fixer! Die ganze Wirtschaft käme durcheinander. Wer kann das verlangen, wer will das verantworten? Da ist es doch einfacher, sie drücken sich den Goldenen Schuß und entheben die Gemeinschaft damit aller Probleme. Soll die gesamte Weltordnung an H zugrunde gehen? Sollen sie sich doch gegenseitig umbringen, diese kaputten, zu nichts mehr nützen Typen! Das Furchtbare ist nur, daß jeder Fixer vier oder fünf neue Fixer heranzieht, daß ein Dealer wie ein Honigtopf ist, zu dem sich die zuerst nur Neugierigen drängen, bis sie zum erstenmal einen Schuß weghaben. Dann sind sie gefangen, dann gibt es kein Zurück mehr, dann ist es wieder einer mehr, der den Staat 300.000 Mark kosten könnte. Wo soll das hinführen?
Was ich getan habe, will ich nicht so oft tun. Nur ab und zu, wenn ich völlig im Tief schwimme. Ich werde mich nie von Dope abhängig machen lassen. Nie! Fast alle, die nach einem Druck nicht mehr zurückkonnten, waren ja schon im Ansatz irre Typen, waren kraftlos und labil. Wir haben beim Roten Kreuz darüber gesprochen. Es gibt genug, die nach einem Probieren wieder zurück sind und nie mehr eine Nadel angerührt haben, weil ihnen kotzübel wurde. Sie waren nicht high, sie lagen völlig auf dem Kreuz.
Ich kenne das alles, und ich weiß, daß ich jederzeit zurück kann. Aber heute mußte ich mir einen Schuß setzen, es ging nicht anders. Während Dr. Bernhardi am Pult über die Wirkung marxistischer Literatur nach 1919 sprach, mußte ich immer an diesen Petro Makaroff denken. Wer ist er? Ich habe Angst vor ihm. Warum, das kann ich nicht sagen, das fühle ich bloß. Aber es ist wirklich Angst!
Als Mann ist er mir gleichgültig, ich schätze, er ist doppelt so alt wie ich, außerdem ist er von einer Sorte Mann, die mich abstößt: Zu schön, zu sehr auf seine Wirkung fixiert, zu eitel. Die Unwiderstehlichen! So etwas hasse ich. Da war Freddy anders. Er war wie ein ausgesetzter, hungernder, herumstrolchender, getretener Hund, ein Tier, das ein wenig Wärme sucht, Anhänglichkeit, Verständnis, Freundschaft. Die ganze Welt war feindlich, weil er nicht in das bürgerliche Schema paßte. Früher, als Papa noch jung war und der Hitler regierte, nannte man Picassos Bilder ›entartete Kunst‹. Heute zahlt man Millionen dafür und nennt Picasso das größte malerische Genie des Jahrhunderts. Wer hat denn nun recht? Freddy war wie ein Picassobild: ein Auge oben links, ein Fuß unten rechts, dazwischen wirre Linien. Aber wenn man zurücktritt und sich etwas Mühe gibt, erkennt man doch den Menschen in seiner ganzen Zerrissenheit. Freddy war so. Er lebte außerhalb der glatten Ästhetik.
Oder Holger Mahlert. Wie komme ich jetzt auf Holger? Er ist das andere Extrem. Sohn reicher Eltern. Akademiker mit
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