Eine angesehene Familie
mir doch … ich zerfalle in lauter kleine Stücke …
Mühsam richtete sie sich auf, trank den Kognak vollends aus und blickte auf ihren mit Schulbüchern übersäten Schreibtisch. Neben dem Lehrbuch für Mathematik der Oberstufe und einem Band mit Kafkas Erzählungen schimmerte der kleine verchromte Kasten.
Er schien auf einmal sprechen zu können. Sie hörte ihn ganz deutlich. Eine weiche, angenehme Stimme. Ich bin immer da, sagte diese Stimme. Ich bin immer bereit, wie der Geist aus der Flasche. Ich bin der Geist aus der Spritze – das ist die moderne Version. Wünsch dir was – ich erfülle es! Du brauchst nur den Deckel zu öffnen und zuzugreifen. Baue dir eine neue, schöne Welt, eine Welt für dich ganz allein!
Monika Barrenberg ließ sich wieder zurückfallen und preßte beide Hände vor das Gesicht. Sie heulte gegen ihre Handflächen, biß sich in den Handballen und hatte grenzenlose Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem sie reden könnte. Der Vater war in Florenz und hätte doch nur getobt, die Mutter würde sie nie verstehen, Freddy war tot …
O Gott, wer hilft mir denn?!
Seite 9 des neuen Tagebuches:
»Ich gab mir einen Druck. Zum erstenmal allein!
Es war nicht mehr auszuhalten. Der Kognak, den ich getrunken habe, der zuerst so angenehm war, ließ eine Hölle in mir ausbrechen. Fast die gleichen Symptome wie bei Freddy: Magenkrämpfe, Schweiß aus allen Poren, Zittern in den Gliedern. Nur nicht so heftig wie bei Freddy. Und dann diese Sehnsucht nach Ruhe! Diese irre Sehnsucht, alles zu vergessen, alles, was einen belastet, einfach abzustreifen wie eine alte Haut. Ich bin seelisch ganz unten – und ich weiß, ich könnte seelisch ganz oben sein, wenn ich mir eine Spritze gebe.
Jetzt habe ich es getan! Wie ein alter Fixer. Ich habe mir von dem weißen, reinen H, das in dem kleinen Innenkasten lag, eine Löffelspitze herausgenommen und in Wasser aufgelöst. Ich habe mir den Arm abgebunden, die Nadel aufgesetzt, die Luft aus der Spritze gedrückt, die Nadel in die Vene gestochen, ein bißchen Blut aufgezogen, um zu sehen, ob der Einstich gut sitzt, und dann habe ich hineingedrückt.
Freddy sagte immer: Das ist ein Gefühl, als wenn es in deinen Adern donnert. Entweder hat er untertrieben oder ich habe zuviel genommen. Mir war es, als explodierte ich. Ich fiel einfach um, krachte auf das Bett und blieb liegen. Jetzt bist du geplatzt, dachte ich ganz klar. Du denkst zwar noch, aber du bist nicht mehr vorhanden. Am Morgen wird jemand kommen und dich von der Wand und den Möbeln kratzen.
Sieben Uhr morgens. Ich muß runter zum Frühstück und dann in die Schule. Mama wird noch nicht auf sein, aber unser zweites Mädchen hat heute Frühdienst und wird mir alles hingestellt haben.
Ich fühle mich hervorragend. Ich sprühe vor Freude! Nach der Explosion in meinem Hirn kam eine Phase der Taubheit, dann folgte langsam dieses verrückte Glücksgefühl. Und es hält an! Ich werde heute in der Schule gut sein, das weiß ich. Ich habe keinerlei Hemmungen vor Problemen. Es ist alles so leicht. Ich kann jetzt verstehen, daß Freddy nur dann so phantastisch Trompete blasen konnte, wenn er seinen Schuß weghatte. Ohne Dope muß er sein Instrument gehaßt haben!
Trotzdem verspreche ich: Das war das letztemal! Ich weiß, wohin das führt. Ich will ein freier Mensch bleiben. Frei vom H! Nur heute mußte ich es tun, weil ich vor Angst fast verrückt wurde. Das soll nie wiederkommen! Nie! Ich habe doch meinen festen Willen!«
Um halb acht fuhr Monika mit ihrem Moped in die Schule. In ihrer Ledermappe lag, neben den Schulbüchern, einem Schinkenbrot in Pergamenttüte und ihrem Make-up-Täschchen, auch der schmale Chromkasten.
Eduard Barrenberg war wieder in Frankfurt, aber das wußte keiner.
Aus Florenz war er geflüchtet. Ohne Bettina war Italien für ihn ein Dreckland, ohne Bettina war auch die Renaissance-Hochburg Florenz nur ein Kaff. Die Vorträge auf dem Kongreß langweilten ihn, eine italienische Nutte für diese vier Tage wollte er sich nicht anschaffen, und so saß er mißmutig und brummend herum, betrank sich und flog am dritten Tag zurück nach Frankfurt.
Maria hatte er vorher angerufen; er fahre jetzt nach Ravenna, um sich das Grabmal des Gotenkönigs Theoderich anzusehen. Er kehre dann nicht mehr nach Florenz zurück, sondern wolle über Bologna und Mailand nach Frankfurt.
Ein Tag und eine Nacht mit Bettina … Das war jede Lüge, jeden Umweg wert.
Vom Airport rief er bei Bettina an, aber es
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