Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
kann sich einer aus Freiheit zu einem Tun entschließen, das trotz der Freiwilligkeit gegen die Würde verstößt. Und deshalb setzte das Gericht der Freiheit hier eine Grenze. Man könnte sagen: Es nahm jemandem die Freiheit, um seine Würde zu retten. Dahinter steht ein Verständnis von Würde, das man so ausdrücken kann: Zwar ist Würde etwas, über das auch jeder Einzelne für sich selbst bestimmt. Aber sie ist nicht nur etwas, was jeder Einzelne in der Hand hat. Sie ist auch etwas Größeres, etwas Objektives, das zwar immer Einzelne betrifft, aber doch über sie hinausreicht: Sie ist das Charakteristikum einer ganzen Lebensform . Es ist diese ganze Lebensform, die in Gefahr gerät, wenn Zwerge geworfen werden – wenn Menschen erniedrigt werden, indem man sie zu Dingen und bloßen Mitteln macht. Sie gilt es durch das System des Rechts zu schützen. Sie ist gegenüber der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen das höhere Gut. Man darf seine Würde nicht mutwillig verspielen.
Der Mann, dem ich beim Wohnwagen begegnet war, hatte nicht nur von seiner freien Entscheidung gesprochen, sondern auch von seiner Not, überhaupt eine Anstellung zu finden. Was er dazu gesagt hatte, ließ mich nicht mehr los. Ich war im Gespräch in gefährliche Nähe zu einer Behauptung geraten, die gelautet hätte: Sie führen, beruflich gesehen, ein würdeloses Leben. Das läßt sich niemand sagen. Es käme einer Vernichtung gleich. Das erklärte seine Gereiztheit. Er hatte dann zu einer Verteidigung gegriffen, an der etwas Wichtiges sichtbar wurde: Unsere Urteile über Würde hängen nicht nur vom Tun ab, sondern auch von der Situation . Je bedrängender und auswegloser eine Situation ist, desto größer ist unsere Toleranz im Urteil über verspielte Würde. Es kann sein, daß einer sich in einer Notlage befindet und gar nicht anders kann, als sich als Spielzeug zu verkaufen. Dann könnte unser Urteil lauten: Nicht nur stehlen ihm die anderen die Würde, indem sie ihn als bloßen Gegenstand und bloßes Mittel behandeln. Sie stehlen sie ihm darüber hinaus noch in der Weise, daß sie ihn nötigen, sie selbst zu verspielen, indem er sich verkauft. Und weil das so ist, können wir eigentlich auch gar nicht mehr davon sprechen, daß er sie verspielt hat. Denn das Verspielen von Würde setzt Freiheit voraus.
Demütigung als demonstrierte Ohnmacht
Wenn man uns als Subjekt mißachtet oder als bloßes Mittel mißbraucht, fühlen wir uns gedemütigt . Demütigung ist die Erfahrung, daß uns jemand die Würde nimmt. Was ist der Kern dieser Erfahrung?
Es ist eine Erfahrung der Ohnmacht . Doch was ist das eigentlich: Ohnmacht? Fehlende Macht. Aber nicht jede fehlende Macht ist das, was wir Ohnmacht nennen. Wir haben nicht die Macht, die Bahnen der Planeten zu verändern, Wasser in Wein zu verwandeln oder zu Fuß die Meere zu überqueren. Wir wissen, daß wir das nie können werden und erleben es doch nicht als Ohnmacht. Ohnmacht ist das Fehlen einer bestimmten Macht: derjenigen, einen Wunsch zu erfüllen. Ganz formal betrachtet gilt: Immer, wenn wir uns einen Wunsch nicht erfüllen können, sind wir ohnmächtig. Doch die Ohnmacht, die wir in einer Demütigung erfahren, ist eine besondere: Es ist die Unmöglichkeit, einen Wunsch zu erfüllen, der für unser Leben entscheidend ist.
Es kann der Wunsch nach Bewegungsfreiheit sein. Daß er nicht erfüllt werden kann, ist die Ohnmacht des Gelähmten, des Gefesselten und desjenigen, vor dessen Augen eine Mauer errichtet wird, die ihn von seiner Familie trennt und ihn hindert, das Land zu verlassen. Es kann der Wunsch sein, einen bestimmten Beruf auszuüben und eine bestimmte Arbeit zu tun. Daß er nicht erfüllt werden kann, ist die Ohnmacht des Arbeitslosen. Es kann der Wunsch sein, sich lebenswichtige Dinge und Medikamente zu kaufen. Daß er nicht erfüllt werden kann, ist die Ohnmacht des Armen. Es kann der vergebliche Wunsch sein, Leiden zu verhindern: Man muß ohnmächtig zusehen, wie das Kind in den Fluten ertrinkt, wie die Angehörigen verschleppt werden, wie jemand vor Schmerzen schreit. Und schließlich kann die Ohnmacht darin bestehen, daß uns jemand zwingt, gegen Wünsche zu handeln, die zu unserem Selbstverständnis gehören: einen Freund zu verraten, etwas Heiliges zu schänden, sich zu einer verhaßten Ideologie zu bekennen.
Eine Ohnmacht, die uns nur zustößt , ist noch keine Demütigung. Ein Erdbeben, eine Hungersnot, eine Epidemie machen uns ohnmächtig, aber sie demütigen uns
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