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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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unser Leben vollständig abzugeben. Es herrscht totale Willkür. Es wird über unseren Kopf hinweg entschieden, wo wir zu wohnen, was wir zu arbeiten, und sogar, wen wir zu lieben und zu heiraten haben. Auch in dem, was wir sagen dürfen, werden wir gegängelt. Am liebsten wäre es dem Despoten, wenn er uns auch in unserem Inneren entmündigen und bevormunden könnte: in unseren Gedanken, Gefühlen und Wünschen.
    So ist es in der Welt von George Orwells Roman Nineteen Eighty-Four . »Die Partei strebt nach Macht um ihrer selbst willen«, sagt O’Brien, der oberste Folterknecht, zu Winston, seinem Opfer. »Macht ist nicht ein Mittel, es ist ein Zweck.« Es geht bei der Bevormundung und Unterdrückung nicht im geringsten um das Wohlergehen der Bürger, um ihren Nutzen und ihren Schutz. Sie werden in keinem Moment als Selbstzwecke gesehen und behandelt. Sie sind Spielbälle der Macht, nichts weiter. Und sie werden gedemütigt: O’Brien kostet die Ohnmacht, die er Winston spüren läßt, stets von neuem aus und achtet darauf, daß Winston es bemerkt. Er ist nicht nur ein Monster, weil er vor keiner physischen Grausamkeit zurückschreckt. Er ist vor allem ein Monster in der Demonstration von Ohnmacht, ein Monster in der Kunst der Demütigung.
    Doch natürlich ist nicht jeder staatliche Eingriff in unser Leben eine Bevormundung, die unsere Würde verletzt. Parlamente erlassen Gesetze, und solche Gesetze sind oft Gebote und Verbote, die unseren Freiheitsspielraum einengen. Unsere individuelle Autorität wird dadurch verkleinert, und in diesem Sinne stellen Gesetze eine Bevormundung dar. Wir können jetzt nicht mehr alles, was wir vielleicht möchten. Das reicht vom Verkehr über das Eigentum und den Handel bis zu den Gesetzen, die uns Straftaten verbieten. Man schreibt uns vor, was wir zu tun haben: Helme tragen und Sicherheitsgurte anlegen, an bestimmten Orten nicht rauchen, nicht mit Drogen handeln, fremde Grundstücke nicht betreten, Eigentum nicht antasten, Leute nicht absichtlich verletzen oder aus dem Weg räumen. Wenn wir diese Dinge akzeptieren, dann deshalb, weil sie insgesamt das Ziel haben, unsere Würde zu schützen. Es geht nicht um die Unterwerfung unter despotische Macht, sondern um Verzicht auf Freiheit zum gesellschaftlichen Nutzen. Die Formel ist: Freiheit opfern für das Gemeinwohl, das auch gut für den Einzelnen ist. Das ist die Logik, mit der man uns die Bevormundung zumutet. Entscheidend ist, daß sie uns in jedem einzelnen Fall erklärt wird und wir sie nachvollziehen können. Das respektiert unsere Würde als Subjekte: als denkende, verstehende Wesen, die sich gegen unverständliche, blinde Zumutungen wehren. Wir können es im Einzelfall anders sehen, wir können die angeblichen Belege anzweifeln und die Beweiskraft der Argumente in Frage stellen. Solange wir die Freiheit haben, uns damit Gehör zu verschaffen und uns in die Diskussion einzumischen, wird die Würde nicht beschädigt. Das geschieht erst, wenn wir mundtot gemacht werden. Erst dann ist die Bevormundung eine Erfahrung der Ohnmacht und der Demütigung.
    Eines Tages flog ich zur Buchmesse nach Teheran. Beim Anflug meldete sich der Pilot. »Ich mache alle Frauen an Bord darauf aufmerksam, daß sie ein Kopftuch tragen müssen, wenn sie die Maschine verlassen«, sagte er. »Das gilt auch für Ausländerinnen.« Ich hatte es gewußt. Und trotzdem: Ich hatte es nicht für möglich gehalten. Ein Staat, der einem vorschreibt, wie man sich anzuziehen hat. Am Messestand wurde mir meine Übersetzerin vorgestellt. Ich wollte ihr die Hand geben. Ihre Hand blieb im schwarzen Tuch verborgen. »Daß ein fremder Mann einer Frau die Hand gibt – das ist verboten«, sagte man mir. Später, auf der Straße, ergab es sich, daß ich ein paar Schritte lang im Gleichschritt neben einer unbekannten Frau ging. Aus einem Torbogen trat ein Revolutionswächter und faßte mich am Arm. »You not go with woman!« , sagte er. Ich erklärte, es sei nicht so, daß ich mit der Frau gegangen sei, sondern neben ihr, ganz zufällig. »You not go with woman!« , sagte er. Ich buchte um und flog nach Hause. Als ich abends das Fernsehen einschaltete, hörte ich einen Bericht über Saudi-Arabien: Frauen dürfen nicht Auto fahren und nur unter der Aufsicht eines Vormunds verreisen.
    Einige Tage später trat in Frankreich das Gesetz in Kraft, das einer Frau das öffentliche Tragen des religiösen Kopftuchs und der Burka verbietet. »Das ist eine unerträgliche Bevormundung!«,

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