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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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mich zum Gehen wandte.
    »Stört es Sie denn nicht, daß sich die anderen an Ihrem Aussehen ergötzen, und daß das Ergötzen durch das Werfen noch gesteigert wird?«
    »Deren Problem, nicht meines.«
    »Aber fühlen Sie sich nicht erniedrigt?«
    »Ich schließe die Augen und denke an etwas Schönes. Nachher ist es, als sei es nicht geschehen.«
    Seine Würde retten, indem man sich in einer demütigenden Situation in eine innere Zitadelle flüchtet, unerreichbar für die anderen: Ist das möglich? Es ist der Versuch, sich innerlich aus der Situation zurückzuziehen und damit den verächtlichen, demütigenden Blicken zu entkommen. Man zeigt den anderen, denen man äußerlich ausgeliefert ist, innerlich die kalte Schulter: »Dort, wohin ich jetzt gehe – dort erreicht ihr mich nicht! Der, den ihr zu demütigen sucht – der ist gar nicht mehr da! Es ist niemand mehr zu Hause, wenn ihr mit eurer Demütigung kommt und euch an meiner Ohnmacht weiden wollt! Ich bin nach innen verschwunden und bin nun unberührbar für eure demütigenden Gesten.« Das Modell könnte das Lippenbekenntnis sein: Man vollzieht, was wie eine bedeutsame Handlung aussieht – doch in Wirklichkeit ist es nichts weiter als eine leere, mechanische Bewegung, aus der man sich mit seinem Erleben längst zurückgezogen hat. So könnte ich es versuchen, wenn man mich, unter dem Hohngelächter der anderen, zwingt, die Straße mit der Zahnbürste zu putzen. Entleerte Bewegungen als letzte Verteidigung der Würde. Oder ist das eine Selbsttäuschung, unverzichtbar für das seelische Überleben, aber unfähig, den Verlust der Würde aufzuhalten? Ich komme im fünften Kapitel darauf zurück.

Rechte haben
     
    Rechte sind ein Bollwerk gegen Abhängigkeit durch Willkür. Damit tragen sie zu unserer Würde im Sinne der Selbständigkeit bei. Wer Rechte hat, kann Ansprüche geltend machen: Er muß nicht darum bitten , daß er etwas darf oder man etwas für ihn tut. Er kann es einfordern und einklagen . Er ist auf niemandes Wohlwollen angewiesen. Man kann ihn nicht, wie einen Rechtlosen, herumschubsen. Wenn ich ein Recht auf etwas habe, so entspricht ihm eine Pflicht der anderen, etwas für mich zu tun oder zu unterlassen. Meine rechtliche Position verschafft mir Selbständigkeit im Sinne des Schutzes gegen Willkür.
    Rechte sind ein Schutzwall gegen Ohnmacht: Sie geben mir Macht, mich zu behaupten. Deshalb sind sie auch ein Schutzwall gegen Demütigung. Sie engen den Spielraum derer ein, die mir meine Ohnmacht demonstrieren und sie genießen möchten. Ich kann klagen, wenn ich mich ohnmächtig fühle. Wenn ich vor Gericht recht bekomme und mich habe behaupten können, empfinde ich das als Wiederherstellung oder Bestätigung meiner Würde. Die vorangegangene Demütigung ist aufgehoben.
    Ich komme nach Hause und sehe eine Bande von Leuten, die gerade mein Haus ausräumen und zerstören. Sie grölen vor Lust, wenn sie meine Ohnmacht sehen, und darin liegt die Demütigung. In einer rechtlosen Gesellschaft wird mir dadurch die Würde genommen, und gegen diese Ohnmacht ist nichts zu machen. Als Rechtssubjekt dagegen habe ich diese Würde: Ich kann die Polizei rufen, um die Ohnmacht zu beenden. Ich habe einen Anspruch darauf: In diesem Anspruch liegt meine Würde. Sie wird mir verliehen durch den Akt, durch den ich als Subjekt von Rechten anerkannt werde. Und sie wird mir vorenthalten oder genommen, wenn ich als Rechtssubjekt vernichtet werde.

Bevormundet werden
     
    Wenn wir den Anspruch erheben, als selbständige Personen behandelt zu werden, dann sagen wir: Wir sind mündig . Wenn man uns diesen Anspruch streitig macht, indem man uns gängelt und Dinge über unseren Kopf hinweg entscheidet, dann fühlen wir uns entmündigt und bevormundet . Was wir dann erleben, ist, daß man uns die Autorität über unser Leben wegnimmt: die Macht, frei entscheiden und selbständig handeln zu können. Es sind jetzt andere, die darüber bestimmen, was wir wollen und tun dürfen. Das kann Demütigung bedeuten und kann unsere Würde in Gefahr bringen.
    Doch nicht jede Bevormundung bedroht die Würde. Ob sie es tut, hängt davon ab, wer uns die Autorität und Selbständigkeit wegnimmt und aus welchen Gründen . Der schlimmste Fall ist der Despot: Er und seine Clique, die Partei, zwingen uns eine ganze Lebensform auf, die unserem Denken, Wollen und Tun zuwiderläuft. Wir werden durch Drohung, Überwachung, Erpressung und Folter gefügig gemacht und dazu gezwungen, die Autorität über

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