Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
nicht. Die Ohnmacht der Demütigung ist auch nicht die Art von Ohnmacht, die man erleben kann, wenn die eigenen Fähigkeiten nicht reichen: wenn man es nicht schafft, ein Hindernis zu überwinden oder eine Aufgabe zu lösen. Die Ohnmacht der Demütigung hat mit anderen Menschen zu tun. Demütigung verlangt, begrifflich betrachtet, einen Täter und ein Opfer : Jemand demütigt jemanden. Er demütigt ihn, indem er ihn in eine Situation der Ohnmacht bringt. Die Ohnmacht darf nicht unbeabsichtigt und ohne Plan sein. Wenn ich von einer panischen Menschenmenge umgeworfen und mitgeschleift werde, ist das Ohnmacht, aber keine Demütigung. Demütigung entsteht erst dann, wenn einer einen anderen gezielt in eine Lage der Ohnmacht bringt.
Doch das bloße Herbeiführen der Ohnmacht genügt nicht. Wenn uns jemand aus dem Verborgenen heraus in eine Lage der Ohnmacht bringt, so daß wir nur das pure Resultat seines Handelns erleiden, erleben wir es noch nicht als Demütigung. Dazu gehört die Erfahrung, daß der Täter uns die Ohnmacht vorführt : daß er uns demonstriert , wie er uns ohnmächtig macht. Die Erfahrung der Demütigung ist die Erfahrung einer Ohnmacht, die ihr Urheber einen unmißverständlich als etwas spüren läßt, das er einem antut. Er errichtet vor unseren Augen die Mauer, die unser Leben zerstört. Er zitiert uns ins Chefbüro, wo er uns feuert. Er zwingt die Juden, die Straße mit der Zahnbürste zu putzen. Demütigung ist demonstrierte Ohnmacht. Dazu gehört Willkür als Ausdruck der Macht – die bewußt ausgelassene Möglichkeit, es nicht zu tun. Die Mauer mußte nicht gebaut werden. Die Entlassung ist demütigend, weil es keinen zwingenden Grund gibt.
Doch Demütigung ist noch mehr als die nackte Demonstration von Ohnmacht. Wer mich demütigt, läßt mich nicht bloß spüren, daß er der Urheber der Ohnmacht ist, sondern daß er es genießt und auskostet , mich so ohnmächtig zu sehen. Was demonstriert wird, ist also nicht nur die Ohnmacht, sondern auch der Genuß an ihr. Es ist die Demonstration desjenigen, der grinsend zu den Leuten hinüberblickt, die ohnmächtig und verzweifelt am Fenster stehen, während er an der Mauer Stein auf Stein setzt. Er sorgt dafür, daß seine Opfer sehen , wie er die Demonstration genießt. Die Erfahrung der demonstrierten Ohnmacht selbst ist schon schlimm genug. Was Demütigung aber zu einer der schrecklichsten Erfahrungen macht, die wir kennen, ist dieses letzte Element: erleben zu müssen, wie sehr unsere Ohnmacht von ihrem Urheber genossen wird und wie gründlich er dafür sorgt, daß wir seinen Genuß auch bemerken. All das war auf den Fotos zu erkennen, auf denen sich die amerikanischen Soldaten im Gefängnis von Abu Ghraib am Anblick der aufgeschichteten nackten Gefangenen delektierten.
Flucht in die innere Festung
Würde ist das Recht, nicht gedemütigt zu werden. Was kann man tun, wenn dieses Recht verletzt wird? Man kann eine Demütigung nicht einfach nur aushalten . Man kann in dem schrecklichen Erleben nicht einfach verharren . Doch was kann man tun? Ich kann betteln und die Täter anflehen : daß sie das nicht mit mir machen mögen. Daß sie die Mauer wieder abreißen. Daß die Kündigung zurückgenommen wird. Doch das ist wie ohnmächtiges Zappeln in der Luft, während der Riese mich hochhält und dabei grölend lacht. Und es macht die Sache schlimmer: Es ist die ausdrückliche Anerkennung der Ohnmacht, und jede flehentliche Bitte, die abgelehnt wird, ist eine weitere Erfahrung der Ohnmacht, die die früheren verstärkt.
Über einen, der sich in solch aussichtslosem Betteln verliert, sagen wir manchmal: Er demütigt sich selbst. Doch eigentlich ist das falsch und sogar unsinnig: Er tut sich ja selbst keine genossene Ohnmacht an, und überhaupt verursacht man nicht Ohnmacht an sich selbst. Es ist eine unglückliche Wendung für den Gedanken: Durch das Betteln und Flehen bestätigt und verstärkt er die Demütigung und verspielt damit seine Würde noch selbst.
Was ist die Alternative? Man braucht eine, denn bloßes Stillhalten geht nicht, es wäre unerträglich. Man muß, wenn auch nicht nach außen, etwas tun, um der Ohnmacht zu begegnen. Und es muß eine Reaktion sein, in der man seine Würde nicht verspielt. Nachdem ich mit dem Zwerg darüber gesprochen hatte, wie der Schiedsspruch gegen seinen französischen Kollegen zu verstehen sei, stand ich auf und wollte gehen.
»Niemand kann mir meine Würde nehmen – egal, was er tut«, sagte er, als ich
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