Eine begehrenswerte Lady
von High Tower. Die letzten Reste von Gillians Verstimmung verflogen angesichts der frischen Brise in ihrem Gesicht und dem Gefühl des schönen Braunen unter sich, den sie heute ritt. Sie lächelte Sophia zu, die auf einem lebhafteren Rotfuchs saß, und sagte:
»Du hattest recht. Das war genau das, was ich gebraucht habe.«
»Es tut auch den Pferden gut«, fügte Stanley hinzu. »Onkel sagt, dass sie viel mehr Bewegung brauchen, als er ihnen geben kann. Und noch mehr, seit er sich den Arm gebrochen hat.«
»Oh, ich freue mich auf den Tag, an dem er uns begleiten kann. Obwohl er darauf bestanden hat, dass wir ohne ihn ausreiten, habe ich ein schlechtes Gewissen«, räumte Gillian ein.
»Wir werden nicht mehr als ein paar Stunden fort sein«, sagte Stanley. »Ich vermute zudem, dass er es zur Abwechslung auch einmal ganz angenehm findet, das Haus wieder für sich allein zu haben.«
»Da hast du wohl recht. Ich hatte gar nicht bedacht, wie viel sich auch für ihn geändert hat, jetzt, da wir alle bei ihm wohnen. Auch wenn sein Haus natürlich groß ist.«
Sophia nickte.
»Stimmt. Wir neigen dazu, immer nur daran zu denken, was das für uns bedeutet, aber dabei vergessen wir, welche Veränderung unsere Anwesenheit für ihn bedeutet.«
»Ich glaube aber, dass er darüber glücklich ist«, sagte Gillian.
Während sie so nebeneinander ritten, unterhielten sie sich weiter über ihren Onkel und wie gut es ihnen auf High Tower gefiel. Mit einem neugierigen Blick zu Stanley fragte Gillian:
»Kehrst du Anfang des neuen Jahres wieder nach London zurück?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er und runzelte die Stirn. »Onkel hat nichts Bestimmtes gesagt, aber ich nehme an, dass er es gerne hätte, wenn ich bleibe und mich stärker an der Leitung von High Tower beteilige.«
»Möchtest du das denn?«, erkundigte sich Sophia und musterte ihn.
»Ja, sehr sogar«, gestand er. »Nicht dass ich London ganz den Rücken kehre«, fügte er hastig hinzu, »aber außer ein paar Monaten vielleicht in der Saison reizt es mich mehr, mit euch beiden und Onkel Silas auf High Tower zu leben.«
»Oh, nun übertreibst du es aber maßlos!«, zog ihn Gillian mit lachenden Augen auf. »Du willst wirklich ständig mit mir in deiner Nähe leben?«
Er lächelte.
»Das wäre kein so schlimmes Schicksal, wie ich es früher immer geglaubt habe. Und was ist mit euch beiden? Wie fändet ihr das, wenn ich auf Dauer auf High Tower bliebe?«
Gillian grinste.
»Vor ein paar Wochen noch hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen, als zuzugeben, dass es nicht so schlimm sein würde.«
»Stimmt«, sagte Sophia und blickte Stanley anerkennend an. »Und es würde Onkel Silas gefallen – was unsere erste Sorge sein sollte.«
Einvernehmlicher als jemals zuvor in ihrem Leben ritten sie zu dritt weiter, unterhielten sich ungezwungen und angeregt und empfanden eine Vertrautheit, die in ihrem Umgang lange gefehlt hatte.
Sie hatten kein Ziel im Auge gehabt, als sie aufgebrochen waren, und trotz des bedeckten Himmels ritten sie weiter, als sie anfänglich geplant hatten. Sie hatten solche Freude miteinander gehabt, dass sie weder merkten, wie die Zeit verflog, noch wohin ihr Weg sie führte, bis aus der frischen Brise ein unangenehm kalter Wind wurde und es zu regnen begann. Sie hielten ihre Pferde an und blickten einander betroffen an und erkannten, dass der Heimritt alles andere als angenehm zu werden versprach – besonders wenn Wind und Regen nicht nachließen.
Außer den Fahrten zur Kirche und dem kurzen Ausritt mit Luc waren Gillian und Sophia mit der Gegend nicht vertraut; zwar kannte Stanley sich besser aus, aber im Augenblick hatte er keine Ahnung, wo sie sich befanden. Mit einem unbehaglichen Gefühl ritten sie weiter, und nach einer Weile merkte Stanley, der ein paar Orientierungspunkte erkannt hatte, dass sie nur eine halbe Meile vom Dorf entfernt waren. In der Hoffnung, dass der Regen nicht lange anhalten würde, entschieden sie, im Dorf in der Krone Schutz vor dem Wetter zu suchen, bis es sich besserte.
»Oder schlimmer wird«, sagte Stanley pessimistisch und betrachtete den sich immer weiter verfinsternden Himmel über dem Ärmelkanal sorgenvoll. »Uns könnte ein schlimmer Sturm bevorstehen. Ich glaube nicht, dass ihr gerne durch ein Unwetter nach Hause reiten würdet.«
»Wir werden uns schon nicht auflösen«, erwiderte Sophia ruhig. »Aber wenn das Wetter sich verschlechtert, können wir sicher im Gasthof jemanden finden, der eine
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