Eine begehrenswerte Lady
glaubst du, warum Stanley so darauf versessen ist, auf High Tower zu bleiben?«
»Geld!«
»Höchstwahrscheinlich, aber warum Canfield mitbringen?«
Sophia spitzte die Lippen.
»Du kennst doch meine Freundin Mrs. Barbara Lawrence, die in London lebt?« Als Gillian nickte, fuhr sie fort: »Ich habe vor ein paar Wochen einen Brief von ihr bekommen, in dem sie erwähnt hat, dass eines der Themen, die den Klatsch in der kleinen Saison am meisten beschäftigt haben, die Unzufriedenheit des Duke of Welbourne mit seinem jüngsten Sohn war.« Sie schüttelte den Kopf. »Es scheint ganz so, als sei Canfield selbst für Seine Gnaden zu wild und verderbt, sodass Welbourne damit gedroht hat, ihn zu enterben. Vielleicht hat er das wirklich getan, sodass Canfield nun auf Kosten seiner Freunde leben muss.«
Mit großen Augen fragte Gillian:
»Weiß Mrs. Lawrence, was Canfield getan hat, um sich den Zorn seines Vaters zuzuziehen?«
Sophia verneinte.
»Barbara hat auf etwas mit einer jungen Dame angespielt, es aber nicht näher ausgeführt.«
Gillian wirkte nachdenklich. Die Nachricht, dass Canfields Schwierigkeiten mit einer Frau zu tun hatten, überraschte sie nicht. In den Jahren nach Charles’ Tod und der schrecklichen Nacht in Welbournes Jagdhaus hatte sie eine Menge über den Herzog erfahren. Er war berüchtigt für seine Ausschweifungen und für die »Gesellschaften«, die er gab. Sie erschauerte. Wenn sie das nur früher gewusst hätte!
»Es muss sehr schlimm sein, wenn Seine Gnaden droht, ihn zu enterben«, erklärte sie schließlich.
»Richtig. Ich vermute, dass Canfield die Grenze überschritten hat und ein unschuldiges junges Mädchen aus guter Familie verführt hat. Welbournes Weibergeschichten sind legendär, aber wenn er einen Rest Anstand beweist, dann damit, dass er sich auf Frauen mit einem … gewissen Ruf beschränkt. Selbst er würde davor zurückschrecken, eine anständige junge Dame vornehmer Herkunft zu ruinieren.«
»Glaubst du das?«, fragte Gillian mit hochgezogenen Brauen. Nach dem, was sie in jener Nacht in dem Jagdhaus beobachtet hatte, gab es nichts, wofür sich Welbourne und sein Freundeskreis zu schade waren. Vor allem auch sein Freund Lord Winthrop.
Sophia zuckte die Achseln.
»Welbourne wandelt auf schmalem Grat, aber meines Wissens hat er sich nie einen Fehltritt zuschulden kommen lassen. Es gibt vieles, über das die gute Gesellschaft bereit ist hinwegzusehen, aber die Verführung einer jungen Dame aus den eigenen Reihen gehört nicht dazu.«
»Nun, wenn Canfield dumm genug war, das zu tun«, bemerkte Gillian, »dann muss die ungenannte Dame, wenn es sie denn tatsächlich gibt, aus einer einflussreichen Familie stammen, sonst hätte sich der Skandal mit Windeseile verbreitet.«
»Ich nehme an, du hast recht.« Sophia sah Gillian eindringlich an. »Und du, meine Liebe, sei sehr vorsichtig in Canfields Nähe. Ich kann ihn nicht leiden und misstraue ihm zutiefst – selbst wenn ich ihn sehen kann.«
»Du hast nichts zu befürchten. Er verursacht mir eine Gänsehaut, und ich habe vor, ihn zu meiden wie die Pest.«
Trotz bester Absichten gelang es Gillian nicht, Canfield gänzlich aus dem Weg zu gehen. Spät am nächsten Nachmittag war Sophia schon nach oben vorausgegangen, um sich fürs Dinner umzukleiden, während Gillian noch bei ihrem Onkel geblieben war. Sie hatte gerade die Tür zum Salon hinter sich geschlossen und wollte zur Treppe gehen, als Canfield sie ansprach.
Er trat aus dem Alkoven unweit der untersten Stufe.
»Auf ein Wort, Madame?«
Gillian gefiel der Ausdruck in seinen blauen Augen nicht, und die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Canfield hatte ihr ganz offensichtlich aufgelauert.
Sie wollte so rasch wie möglich von ihm fort, daher ging sie weiter zur Treppe und erkundigte sich im Vorbeigehen mit scharfer Stimme:
»Was ist?«
Seine Hand auf ihrem Arm erschreckte sie, und sie stockte. Mit einer geschmeidigen Bewegung griff er fester zu, zwang sie stehen zu bleiben und zog sie in den Alkoven.
Mit einem höhnischen Grinsen murmelte er:
»Ich möchte kurz unter vier Augen mit Ihnen sprechen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Und wenn es mir nicht recht ist?«, fragte sie mit verärgert blitzenden Augen.
»Ich glaube nicht, dass Sie die Lage wirklich begreifen, und ich warne Sie: Ärgern Sie mich besser nicht, sonst werden Sie es bereuen.«
»Wie bitte?« Sie entwand ihm ihren Arm und trat einen Schritt zurück, dann fügte sie hinzu: »Ich fürchte, Sie
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