Eine begehrenswerte Lady
Spätsommer hatte Stanley noch keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte, aber er war entschlossen, einen Weg zu finden – und Zeit auf High Tower mit seinem Onkel zu verbringen schien ihm ein Schritt in die richtige Richtung.
Canfields Ankunft in seinem Leben hatte ihn aus der Bahn geworfen, und seine Verwandten lagen auch hier richtig. Canfield hatte seine Nähe gesucht, und er war so sehr davon geblendet, von Welbournes jüngstem Sohn wahrgenommen zu werden, dass er vorübergehend all seine guten Vorsätze vergaß. Stanley und seine Freunde gehörten zwar zur guten Gesellschaft, verkehrten aber nicht in den allerbesten Kreisen. Er war mit seinem Bekannten- und Freundeskreis bislang immer zufrieden gewesen, aber es schmeichelte ihm unbestreitbar, wenn er in Canfields Gesellschaft gesehen wurde – trotz dessen Hang zu Ausschweifungen.
Als er an diesem Samstagmorgen auf High Tower mit Kopfschmerzen und Übelkeit erwachte, verfluchte Stanley sich dafür, geglaubt zu haben, es sei erstrebenswert, mit dem jüngsten Spross des Herzogs befreundet zu sein. Er spielte gerne, aber nicht um so hohe Einsätze wie Canfield – die Geschichte von Bramhalls Tod diente ihm als ständige Mahnung, nicht um mehr zu spielen, als er sich leisten konnte. Stanley trank gerne viel, aber nicht so unmäßig wie Canfield. Er hatte auch einen gesunden Appetit auf das schönere Geschlecht, hielt sich aber beim Herumhuren und mit Weibergeschichten zurück. Canfields Lieblingsbeschäftigung schien neben dem Spielen um astronomische Summen zu sein, die nächstbeste gut aussehende Frau zu vernaschen.
Außer an den ersten paar Abenden hatte sich Stanley nicht im Ram’s Head amüsiert. Als einigermaßen höflicher Mann und seinen Mitmenschen gegenüber nicht gleichgültig, fand Stanley Canfields Verhalten unangenehm, aber Canfields Arroganz gegenüber Nolles beunruhigte ihn zudem. Stanley kannte Nolles’ Ruf und fürchtete, Canfield würde ihn beleidigen und ihnen dadurch Schwierigkeiten einbrocken.
Aber noch wichtiger war, dass er kürzlich entdeckt hatte, dass er den Sohn des Herzogs nicht leiden konnte und sich fragte, warum er sich je durch dessen Interesse an ihm geschmeichelt gefühlt hatte. Er hatte noch eine Entdeckung gemacht, die ihn überraschte – während dieser vergangenen paar Wochen war er mit seinem Onkel, Gillian und Sophia auf High Tower glücklicher und zufriedener gewesen, als es in London schon eine Weile der Fall gewesen war.
Er spritzte sich Wasser aus der Porzellanschüssel auf dem hölzernen Waschtisch ins Gesicht, schaute im Spiegel in seine hageren Züge und zuckte zusammen. Onkel Silas, Gilly und Sophy hatten alles Recht der Welt, ihn missbilligend anzusehen, und er schwor sich, dass er gestern Abend das letzte Mal seine Zeit im Ram’s Head verschwendet hatte.
Nach den langen Nächten dort hatte er es sich wie Canfield zur Gewohnheit gemacht, bis zum späten Nachmittag im Bett zu bleiben, aber an diesem Tag brach Stanley damit und zwang sich, das Bett weit vor Mittag zu verlassen. Sobald er angekleidet war, überraschte er Silas und die Damen, indem er sich zu einem leichten Mittagsimbiss, der im Frühstückssalon serviert wurde, zu ihnen gesellte.
Als er in das Zimmer schlenderte, blickten sie ihn alle verwundert an. Er lächelte und trat zu der Anrichte, wo er sich Kaffee aus der Silberkanne einschenkte, die zwischen anderen Gefäßen mit Speisen und Getränken stand.
Er drehte sich wieder zu seinen Verwandten um, die um den runden Tisch in der Mitte des Raumes saßen, und sagte:
»Guten Morgen. Ich hoffe, euch geht es gut.«
»Dir auch einen guten Morgen«, sagte Silas. »Wir sehen dich nicht oft so früh hier. Gibt es dafür einen Grund?«
Stanley wurde rot.
»Eh, nein, nichts Besonderes.« Er räusperte sich und erklärte: »Es ist … eh, nicht so oft, dass wir als Familie zusammen sind, und ich hatte das Gefühl, dass ich mehr Zeit mit euch verbringen sollte.«
»Was haben Sie mit meinem Bruder gemacht?«, wollte Gillian wissen. »Erst begleiten Sie uns klaglos ins Dorf und jetzt suchen Sie aktiv unsere Gesellschaft. Sie müssen ein Hochstapler sein.«
»Nun, er ist heute Morgen nicht mit uns zur Kirche gefahren«, wandte Sophia ein. »Daher ist er vielleicht doch kein Hochstapler, aber er ist gewiss nicht ganz richtig im Kopf. Wie sonst lässt sich sein verändertes Verhalten erklären?«
»Er ist verrückt, denkst du?«, murmelte Gillian mit hochgezogenen Brauen.
»Hölle, das ist
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