Eine betoerende Schoenheit
Geschäftsabschluss, je weniger sie sich persönlich damit befasste, desto unproblematischer würde alles verlaufen.
Leider war es mit ihrer Gleichgültigkeit – und ihrem Seelenfrieden – in dem Moment vorbei, als der neue Earl durch die Tür trat.
Millie hatte durchaus eine eigene Meinung. Sie achtete sehr genau auf das, was sie sagte und tat, aber ihrer Fantasie erlegte sie nur selten Beschränkungen auf. Das war die einzige Freiheit, die sie hatte.
Manchmal, wenn sie nachts im Bett lag, stellte sie sich vor, sich zu verlieben, wie es in den Büchern von Jane Austen geschah – ihre Mutter gestattete ihr nicht, die Brontës zu lesen. Liebe, so schien es ihr, war das Ergebnis von genauer, kluger Beobachtung. Miss Elizabeth Bennet, zum Beispiel, war nicht der Meinung, dass Mr Darcy einen guten Ehemann abgeben würde, bis sie sah, wie beeindruckend Pemberley war, welches für Mr Darcys ebenso beeindruckenden Charakter stand.
Millie stellte sich vor, dass sie eine wohlhabende, unabhängige Witwe war, die die Herren in ihrer Reichweite mit ironischem, aber keinesfalls boshaftem Scharfsinn prüfte. Und wenn sie Glück hatte, würde sie den einen Gentleman mit gutem Charakter, Verstand und Humor finden.
Das schien ihr der Inbegriff romantischer Liebe zu sein: die stille Zufriedenheit zweier verwandter Seelen, die in sanfter Harmonie zusammenfanden.
Ihr innerer Aufruhr, als der neue Earl Fitzhugh in das Gesellschaftszimmer geführt wurde, traf sie daher völlig unvorbereitet. Es war, als erschiene ihr ein Engel, dessen grelles weißes Licht sie blendete. Von diesem übernatürlichen Strahlen eingehüllt stand vor ihr ein junger Mann, der seine Flügel gerade in diesem Moment zusammengefaltet haben musste, um zumindest im Ansatz einem Sterblichen zu ähneln.
Aus reinem Selbstschutz senkte sie instinktiv den Kopf, bevor sie noch die Herrlichkeit seiner Züge ganz begriffen hatte. Aber in ihrem Inneren herrschte wilde Aufregung, ein Gefühl, das zu gleichen Teilen aus Freude und Elend bestand.
Hier musste ein Fehler vorliegen. Der verstorbene Graf konnte unmöglich einen Cousin haben, der so aussah. Jeden Augenblick würde er als Kommilitone des neuen Earls vorgestellt werden, oder vielleicht als Sohn Colonel Clements‘, des Vormunds des jungen Earls.
„Millie“, sagte ihre Mutter, „darf ich dir Lord Fitzhugh vorstellen. Lord Fitzhugh, meine Tochter.“
Großer Gott, er war es doch. Dieser umwerfend gutaussehende junge Mann war der neue Lord Fitzhugh.
Sie musste ihren Blick heben. Er erwiderte ihn mit ruhigen, blauen Augen, als er ihr die Hand gab.
„Miss Graves“, sagte er.
Ihr Herz schlug wie trunken. Sie war so eine absolute Aufmerksamkeit eines Mannes nicht gewohnt. Natürlich kannte sie die freundliche Aufmerksamkeit ihrer Mutter, aber wenn ihr Vater mit ihr sprach, so hing sein Blick immer halb auf seiner Zeitung.
Lord Fitzhugh hingegen konzentrierte sich völlig auf sie, als wäre sie die wichtigste Person, der er je begegnet war.
„Mylord“, murmelte sie. Sie nahm die Wärme auf ihrem Gesicht ebenso unangenehm wahr wie die Perfektion seiner Wangenknochen, die die Alten Meister sofort hätte zum Pinsel greifen lassen.
Gleich nach ihrer Vorstellung wurde das Abendessen aufgetragen. Der Earl bot Mrs Graves seinen Arm, und Millie verbarg nur mühsam ihren Neid, während sie Colonel Clements‘ Arm nahm.
Sie blickte zum Earl, als der gerade in ihre Richtung sah. Ihre Blicke trafen sich einen Augenblick lang.
Hitze strömte durch ihre Adern. Sie wurde nervös, fühlte sich beinahe benommen.
Was war nur mit ihr los? Millicent Graves, Mauerblümchen par excellence , durch deren Adern der Mangel an Leidenschaft floss, empfand solch seltsam aufflammende Wallungen nicht. Um Himmels Willen, sie hatte ja noch nicht einmal einen Brontë-Roman gelesen. Warum fühlte sie sich dann auf einmal wie eines der jungen Bennet-Mädchen, die kicherten und kreischten und sich nicht im Geringsten beherrschen konnten?
Sie war sich nur am Rande des Umstands bewusst, dass sie nichts über den Charakter, Verstand oder das Temperament des Earls wusste. Dass sie sich oberflächlich und närrisch aufführte, als wollte sie den Karren vor den Ochsen spannen. Aber das Chaos in ihrem Inneren hatte ein Eigenleben entwickelt.
Als sie den Salon betraten, sagte Mrs Clements: „Was für ein wunderbar gedeckter Tisch. Finden Sie nicht auch, Fitz?“
„In der Tat“, sagte der Earl.
Sein Name war George Edward Arthur
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