Eine bezaubernde Erbin
Minuten, so viel war sicher. Nicht in einhundertzehn Jahren.
Wie durch ein Wunder kam die Gruppe des Bräutigams noch vor der Gruppe der Braut an, wenn auch nur um wenige Sekunden. Hastings versuchte, Fitz dazu zu bringen, in die Kirche zu rennen, damit er nicht draußen gesehen wurde, wenn die Brautkutsche vorgefahren kam. Aber Fitz hätte selbst dann nicht rennen können, hätte ihn jemand mit einem Messer bedroht.
Er schob Hastings‘ Hand weg. „Ich bin hier. Das muss reichen.“
Die Kirche lag mit der Kutsche nur zehn Minuten von seinem Stadthaus entfernt. Er hätte schon vor einer Stunde hier sein und in der Sakristei auf und ab gehen müssen, bis es an der Zeit war, vor den Altar zu treten.
Und das wäre er, bei Gott, er wäre es, würde er Isabelle heiraten. Er wäre bei Sonnenaufgang aus dem Bett gesprungen und noch vor den Trauzeugen fertig gewesen. Er wäre derjenige gewesen, der an ihre Türen geklopft hätte, um sicherzugehen, dass alle rechtzeitig wach und ordnungsgemäß angezogen waren. Und wären leichte Mädchen auf seinem Junggesellenabschied gewesen, hätte er sie zu seinen Kommilitonen geführt – es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, seinen Körper vor seiner Hochzeit zu entehren.
Aber hier stand er nun, entehrt, schlecht hergerichtet und zu spät – und trotz allem immer noch gut genug für die Zeremonie, die den Verkauf seines Namens und seiner Person besiegelte.
Die unbarmherzig grelle Sonne verstärkte das Pochen in seinem Schädel. Die Luft in London war nahezu immer schmutzig – manchmal konnte man den Dreck direkt schmecken. Aber die sintflutartigen Regengüsse der letzten Woche seiner Freiheit hatten sie reingewaschen. Der Himmel war wolkenlos blau und weit. Es war geradezu lachhaft, wie schön der Himmel war, perfekt für jede Hochzeit außer seiner eigenen.
Meter über Meter von Organza war in die Kirche gestopft worden. Tausende Maiglöckchen standen überall, und ihr Duft lag so schwer wie Weihrauch in der Luft. Sein noch immer empfindlicher Magen zog sich zusammen.
Die Kirchenbänke waren bis zum letzten Platz besetzt. Als er den Gang entlangging, wandte sich ihm ein Meer aus Gesichtern zu, das von einer Welle des Geflüsters begleitet wurde – ohne Zweifel führte seine beinahe unverzeihliche Verspätung zu Kommentaren.
Doch als er sich dem Altar näherte, verstummte eine Reihe nach der anderen. Was sahen sie in seinem Gesicht? Abscheu? Kummer? Elend?
Er konnte nicht sehen, was vor ihm lag.
Und dann erblickte er Isabelle, die sich aus ihrem Sitz auf einer Kirchenbank erhob und sich zu ihm umwandte.
Er hielt inne und starrte sie an. Ihre Augen waren rot und geschwollen, ihre Wangenknochen zeichneten sich scharf ab, ihre Haut war so blass wie Eis – und sie war unermesslich schön.
Sie sah ihn an. Ihre Lippen teilten sich und formten die Worte: Lauf mit mir fort.
Warum nicht? Sollte Henley Park doch verrotten. Sollten seine Gläubiger doch zur Hölle gehen. Und sollten die Graves doch jemand anderen finden, an den sie ihre Tochter verschachern konnten. Das hier war sein Leben. Und er würde es so leben, wie es ihm gefiel.
Er brauchte nur die Hand auszustrecken. Sie würden einen Platz für sich finden und sich ihr eigenes Glück schmieden, das Leben bei den Hörnern packen und es niederringen.
Er hob die Hand einen Zentimeter, dann noch einen. Vergiss doch die Ehre, vergiss das Pflichtgefühl, vergiss alles, wozu du erzogen worden bist. Alles, was sie brauchten, war ihre Liebe.
Liebe würde aus ihr eine Ausgestoßene machen. Sie würde ihre Familie verlieren, ihre Freunde, ihre ganze Zukunft wäre vernichtet. Und wenn ihm etwas zustieße, bevor er volljährig war – dann hätte er sie für den Rest ihres Lebens verdammt.
Er ließ seine Hand sinken.
Hastings ergriff seinen Arm. Er befreite sich aus dem Griff. Er war der Mann, zu dem man ihn erzogen hatte. Ihn musste niemand zum Altar schleifen.
Den Blick noch immer auf Isabelle gerichtet formten seine Lippen die Worte: Ich liebe dich .
Dann schritt er mit hoch erhobenem Kopf den Rest des Weges zu seinem Untergang.
Während der gesamten Zeremonie blickte Millie nicht ein einziges Mal ihren Bräutigam an.
Wenn es angebracht war, wandte sie ihm das Gesicht zu, aber unter ihrem Schleier starrte sie nur auf den Saum ihres viel zu extravaganten Kleides, dessen Perlstickereien so schwer waren wie ihr Herz. Und als er ihren Schleier lüftete, um ihr einen züchtigen Kuss auf die Wange zu geben, konzentrierte
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