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Eine bezaubernde Erbin

Eine bezaubernde Erbin

Titel: Eine bezaubernde Erbin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherry Thomas
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veranlasst, zu einem Anwesen etwa zwanzig Meilen nördlich von hier weiterzufahren, wo ich ungestörter sein kann.“
    Er wäre ungestörter. Was war mit ihr?
    „Ich wäre scheußliche Gesellschaft“, fuhr er fort, während sein Blick auf irgendetwas hinter ihr ruhte. „Ich bin mir sicher, dass es Ihnen hier besser gefallen wird.“
    Sie waren gerade mal einen Tag verheiratet, und schon konnte er es kaum erwarten, sie loszuwerden. „Ich werde mit Ihnen kommen.“
    „Es besteht kein Grund, die Ehefrau zu spielen. Wir haben eine Vereinbarung.“
    „Ich spiele nicht die Ehefrau.“ Es fiel ihr schwer, leise und ruhig zu sprechen. „Wenn ich hier bleibe, nachdem mein Mann sein Zimmer verwüstet hat und abgefahren ist, werden mir das Mitleid und die müßige Neugierde der Besitzer und Angestellten des Gasthauses ganz sicher keine Freude bereiten.“
    Er betrachtete sie eine Minute lang, die sonst so schönen blauen Augen blutunterlaufen. „Wie Sie wollen. Ich fahre in einer halben Stunde ab.“
    Die Gegend zwanzig Meilen weiter nördlich war wunderschön. Ihr Ziel lag auf halbem Weg einen steilen, dicht bewaldeten Hang hinauf, von dem aus man auf einen spiegelglatten See blickte. Die Farben der Hügel wechselten ständig: grau und neblig am Morgen, leuchtend blau-grün zur Mittagsstunde und fast violett im Sonnenuntergang.
    Aber es war kein Anwesen . Millie hatte eine Art Landgut erwartet. Oder zumindest ein Jagdhaus. Was sie vorfand, war ein Häuschen, das kaum größer war als eine Holzhütte und nur zwei Stufen besser als eine primitive Höhle.
    Die nächste Ortschaft lag zehn Kilometer entfernt. Sie hatten keine Kutsche, keine Dienstmädchen und keinen Koch. Der Earl erwartete, dass sie von Brot, Butter, Dosenfleisch und Früchten lebten, die alle drei Tage gebracht wurden. Oder besser: Er erwartete, dass sie davon lebte. Er selbst benötigte nur Whisky, der kistenweise geliefert wurde.
    Jede Nacht zog er sich mit mehreren Flaschen zurück. Jede Nacht schlug er etwas in seinem Raum kaputt: die Teller, die an der Wand zerschellten, den Waschtisch, den schweren Eichentisch. Während dieser Gewaltausbrüche verkroch sie sich in ihrem Bett. Auch wenn er nie ein böses Wort gegen sie richtete – oder sie auch nur ansah –, bei jedem Krachen zerbrach etwas in ihr.
    Manchmal verließ sie ihr Bett, zog ihren dicksten Mantel über und ging nach draußen, so weit fort, wie sie es in der Finsternis wagte, um sich die Sterne anzusehen. Um sich daran zu erinnern, dass sie nur ein Staubkorn im riesigen Universum war – und ihr Herzschmerz unbedeutend. Dann zerschmetterte er wieder etwas, durchbrach die Stille der Nacht, und ihr Universum schrumpfte wieder auf einen einzelnen Punkt der Verzweiflung zusammen.
    Tagsüber schlief er. Sie durchwanderte stundenlang die Hügel und kehrte erst zurück, wenn sie erschöpft war. Sie vermisste ihre Mutter, ihre gütige, kluge und unerschütterlich liebevolle Mutter. Sie vermisste den Frieden und die Beschaulichkeit ihres Zuhauses, wo sich niemand Tag für Tag bewusstlos trank. Sie vermisste sogar die unablässigen Klavierstunden – hier gab es nichts zu tun, keine Ziele zu erreichen, keine Leistung zu erbringen.
    Sie bekam ihn selten zu Gesicht. An einem Tag, nachdem der Waschtisch in Einzelteilen im Mülleimer gelandet war, sah sie ihn nackt bis zur Hüfte im Bach hinter der Hütte baden. Er hatte erschreckend viel Gewicht verloren, sein Oberkörper war nur noch Haut und Knochen.
    Ein anderes Mal atmete er zischend aus, als sie die Öllampe im Salon anzündete. Er lag ausgestreckt auf dem langen Sofa, die Arme über dem Gesicht. Sie entschuldigte sich, löschte das Licht und ging auf ihr Zimmer. Auf dem Weg kam sie an seinem vorbei: Der Kleiderschrank war umgestürzt, der Stuhl war nur noch als Feuerholz zu gebrauchen und rasiermesserscharfe Glasscherben von unzähligen Whiskyflaschen lagen überall verstreut.
    Es verschlug ihr den Atem. Seine Verzweiflung umhüllte sie wie eine dunkle Flut, mit Unterströmungen aus Zorn. Sie hasste ihn in diesem Moment: Nichts und niemand hatte ihr je dieses Gefühl vermittelt, als diente ihre Existenz nur dazu, Seelenverwandte zu trennen und vielversprechende junge Männer in selbstzerstörerische Schatten ihrer selbst zu verwandeln.
    Und dennoch brach es ihr das Herz, ihn so zu sehen.
    Die Einsamkeit der Hütte, die ohne Zweifel hervorragend geeignet war, persönlichen Schmerz persönlich zu halten, war in jeder anderen Hinsicht nicht

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