Eine bezaubernde Erbin
ihren Kopf, um ihr in die Augen sehen zu können, und begegne ihrem hochmütigen Blick, der mich, so lange ich denken kann, verhöhnt hat.
„Warum sind meine Hände gebunden?“, flüstert sie. „Hast du Angst vor ihnen?“
„Natürlich“, antworte ich. „Ein Mann, der eine Löwin jagt, sollte stets auf der Hut sein.“
Auf der nächste Seite sah sie die Kohlezeichnung einer nackten Frau, ihr Körper eher schlank als üppig, ihre Brüste aufgrund der Position ihrer Arme aufgerichtet. Ihr Gesicht war zur Seite geneigt und unter ihrem langen, offenen Haar verborgen, aber in ihrer Haltung lag nichts Zurückhaltendes oder Furchtsames. Sie stand so da, als ob sie genau so gesehen werden wollte, ihre Reize zur Schau gestellt, um den Mann zu verspotten, der sie betrachtete.
Helenas Atem ging schneller – und das ärgerte sie. Hastings konnte also ein paar Wörter zusammenreihen und eine obszöne Szene beschreiben. Dass er seine Talente zu solch unwürdigen Zwecken verwendete, war kein Grund, ihre Meinung über ihn zu ändern, und ganz sicher auch kein Grund, sich selbst …
Nackt zu fühlen.
Sie warf die Blätter, die sie zur Seite gelegt hatte, wieder auf das Manuskript, stopfte das gesamte Werk zurück in den Umschlag, schob ihn tief in eine Schublade ihres Schreibtisches und verschloss sie.
Erst nachdem sie ihr Büro für den Tag verlassen hatte, bemerkte sie, dass sie Hastings’ pornographischen Roman auf Andrews Liebesbriefe gelegt hatte.
„Du hast dem armen Mr Cochran heute äußerst schwierige Fragen gestellt, Millie“, sagte Fitz.
Seine Bemerkung brach das Schweigen in der Kutsche. Sie waren auf dem Heimweg von einer ihrer Geschmacksproben für Cresswell & Graves. Zumindest würde Millie nach Hause gehen, sobald die Kutsche vor ihrem Stadthaus hielt, aber er würde weiterfahren, ohne Zweifel wieder zu Mrs Englewood.
„Ich habe nur wenige Fragen stellt. Du hingegen warst heute viel zu anspruchslos.“ Ihre Stimme klang gereizt. Sie war gereizt – acht gemeinsame Jahre und sie war noch immer nur die weit abgeschlagene Zweitbeste. „Normalerweise stimmst du einem Produkt erst zu, wenn du es dreimal zurückgeschickt hast, damit es verfeinert und verbessert wird. Der neue Apfelschaumwein ist nie einer so rigorosen Prüfung unterzogen worden, und dennoch hast du ihn sofort genehmigt.“
„Er schmeckt wunderbar. Spritzig, ohne aufdringlich zu sein. Süß und gerade so herb, dass es perfekt ist.“
Er hätte von Isabelle Englewood sprechen können.
„Ich fand ihn recht passabel, aber nichts, weswegen man gleich in Begeisterungsstürme ausbrechen muss.“
„Das ist eigenartig“, sagte er leise. „Unser Geschmack ist sich sonst so ähnlich.“
Sie hatte stur aus dem Fenster gesehen. Jetzt blickte sie zu ihm hinüber. Was sich als Fehler erwies. Er sah aus, wie ein Mann, der mit seinem Los im Leben höchst zufrieden war.
Der Siegelring, den sie ihm geschenkt hatte, glänzte an seiner Hand. Sie wollte ihn ihm herunterreißen und aus dem Kutschenfenster werfen. Aber dann hätte sie auch seine goldene und onyxbesetzte Taschenuhr und den Gehstock wegwerfen müssen, dessen Porzellangriff in tiefem, leuchtendem Blau erstrahlte. Wie seine Augen.
So viele Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke. So viele durchschaubare Versuche, ihren Anspruch auf seine Person zu festigen, als ob Metall und Keramik das Herz eines Mannes irgendwie beeinflussen konnten.
„Ich vertraue deiner Urteilskraft eher, wenn du nicht so … beschwingt bist“, sagte sie.
„Beschwingt, das ist ein ziemlich schwerer Vorwurf.“ Er lächelte. „Seit Jahren hat mir niemand mehr vorgeworfen, beschwingt zu sein.“
Sein Lächeln – früher hatte sie gedacht, es wäre ein Wegweiser zu einem verborgenen Paradies, aber die ganze Zeit war es nur ein Aushang, der besagte: „Eigentum von Isabelle Pelham Englewood. Unbefugtes Eindringen wird mit gebrochenem Herz bestraft.“
„Nun, die Dinge haben sich in letzter Zeit geändert.“
„Ja, das haben sie.“
„Ich bin mir sicher, dass du Mrs Englewood erneut besucht hast. Was hält sie davon, sechs Monate warten zu müssen? Ich vermute, sie hasst es.“
„Du bist meine Frau, Millie, und du trittst für niemanden beiseite. Mrs Englewood versteht das.“
Etwas in seiner Stimme ließ ihr Herz zwei Schläge aussetzen. Sie sah weg. „Für sie trete ich gerne beiseite.“
Er erhob sich von seinem Platz ihr gegenüber und setzte sich neben sie. Bei einem Ehepaar war nichts dagegen
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