Eine Billion Dollar
etwas totschweigen will, füllt man den zur Verfügung stehenden Platz in den Medien einfach mit etwas anderem, vorzugsweise mit belanglosem Klatsch über belanglose Prominente, und rechtfertigt es, indem man behauptet, das sei es, was die Leute lesen wollen. Und man muss bringen, was die Leute lesen wollen, sonst verliert man Marktanteile und Quoten und Anzeigenvolumen und geht unter im gnadenlosen Konkurrenzkampf, ganz klar, oder? Und schon erfährt niemand, dass es diesen afrikanischen Krieg, diese Hungersnot, diese politische Meinung überhaupt gibt.« Er schob sein Glas auf dem Marmortischchen umher. »Jeder weiß, was die Themen sind, von denen man ganz oben angeblich glaubt, dass sie Marktanteile und Werbekunden sichern, und welche nicht. Und wenn jemand entlassen wird, gibt es immer einen guten neutralen Grund, einen Sachzwang, einen Verstoß, irgendwas. Aber jeder weiß, dass in Wirklichkeit entlassen wird, wer den Herren in London missfällt.«
Ursula betrachtete den Mann mit den rotblonden Haaren. Van Delft hatte einiges zugenommen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, und so gesund wie früher sah er auch nicht mehr aus. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Und sie wollte nicht glauben, dass es so sein konnte, wie er sagte.
Van Delft sah sie forschend an. »Klingt das paranoid für Sie? Wie der Rechtfertigungsversuch eines Versagers?«
Sie zuckte die Schultern. »Was haben Sie denn angestellt?«
»Eine Reportage durchgesetzt über katastrophale Zustände in einem bulgarischen Chemiewerk, das zur Fontanelli-Gruppe gehört. Ein hässlicher Kontrast zu den Lobeshymnen, die sonst so gesungen werden auf deren Umweltaktionen und Recyclingkonzepte. Das Ding ist erschienen, vier Seiten, sieben Farbfotos, eine Woche später war die Rede von Umstrukturierung, und zum Monatsende war ich draußen. Mit Abfindung, klar. Aber in meinem Alter heißt das Ende und aus.«
»Aber das stinkt doch zum Himmel!«
»Natürlich. Es soll ja stinken. Was glauben Sie, wie vorsichtig die anderen jetzt sind, mit ihren studierenden Kindern und noch nicht abgezahlten Hypotheken? Das ist Terror nach jeder Definition des Wortes. Terror, verpackt in samtene Lügen von Sachzwängen und Quotendruck.« Van Delft betrachtete sein Glas, hob es kurzentschlossen an die Lippen und stürzte den Inhalt, ein stilles Wasser, hinab. »Genug geheult. Was ist mit Ihnen? Was treibt Sie nach Hamburg? Was macht das Studium?«
Sie erzählte ihm kurz und geistesabwesend, was es zu erzählen gab.
Jetzt war die Reihe an ihm, entgeistert dreinzublicken. »Ach du meine Güte. Ursula! Sie wollten doch Ihren Doktor machen? Das Archiv der Familie Vacchi auswerten und die Wirtschaftsgeschichte der letzten fünfhundert Jahre neu schreiben?«
»Ja.« Sie strich sich die Haare aus der Stirn, strich sie bis in den Nacken und hielt sie dort fest. Nutzlos, sie hatte ohnehin keine Klammer dabei. »Kleinmädchenträume. Stattdessen habe ich Angebote geschrieben und Buchhaltung gemacht. Ich kann Ihnen alles über Ethernet-Verkabelung erzählen, was Sie wissen wollen.«
Er wirkte aufrichtig besorgt. »Das war doch Ihr Traum. Ihre Vision. Sie haben gesagt, das Archiv in Florenz sei ein Geschenk des Himmels…«
Ursula Valen betrachtete den Rand ihres Glases und wie sich die Fenster des Bistros darin spiegelten. »Ein Geschenk des Himmels… Ja, damals ist mir das so vorgekommen.« Cristoforo Vacchi hatte sich eine Weile lang immer mal wieder gemeldet, hatte wissen wollen, wie es ihr gehe. Er hatte nie versucht, sie zu irgendetwas zu drängen. Er hatte nur irgendwann aufgehört, sie anzurufen.
»Und heute? Ich meine, es ist doch ausgestanden. Was hindert Sie daran, Ihren Doktor eben jetzt zu machen?«
»Schulden, zum Beispiel. Ich muss Geld verdienen. Und abgesehen davon, wer bin ich denn? Eine der zahllosen Frauen eben, die einen Magister gemacht und nichts damit angefangen haben.«
»Sie sind die Frau, der die Vacchis Zugang zu ihrem Archiv gewährt haben.«
»Möchte wissen, warum.« Sie starrte ins Leere, dachte an damals, die engen Regalreihen voller Kontenbücher, den Geruch von Staub und Leder, das Testament unter Glas… Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das Kapitel ist abgeschlossen.«
Van Delft schien noch etwas einwenden zu wollen, aber dann sah er sie nur nachdenklich an und sagte: »Das müssen Sie wissen.«
Eine Weile sahen sie den Passanten draußen auf der Straße zu, dann fragte Ursula Valen leise, ohne van Delft anzuschauen: »Ist er
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