Eine Billion Dollar
»Aber wenn –«, begann er, atmete keuchend, flüsterte weiter: »Aber wenn ich keine Aufgabe habe… wenn ich keine Aufgabe habe im Leben… wer bin ich dann? Wer? Wozu lebe ich?«
Sie konnte nicht anders, als ihn zu umarmen, ihn an sich zu drücken, als er zu weinen begann, und ihn festzuhalten und zu spüren, wie er zitterte und bebte und verzweifelt war, wie die Tränen das Entsetzen langsam wegschwemmten und wie er allmählich ruhig wurde. Was für eine Szenerie, dachte sie zwischendurch, wie wir hier stehen, zwischen all diesen uralten Büchern, in diesem uralten Haus…
Endlich löste er sich aus ihrer Umarmung. Sie merkte, dass sie ihn ungern losließ. »Danke«, sagte er und schniefte, grub ein Taschentuch aus einer Hosentasche aus. »Ich weiß nicht, was das war.«
»Es ist viel zusammengekommen.« Seltsam, das alles war kein bisschen peinlich.
Er stand da, sah sie aufmerksam an, schien fast ein wenig verwundert. »Es hat mir gefallen, Sie zu spüren«, sagte er mit einer Art Staunen. »Das klingt jetzt vielleicht blöde, aber ich wollte nicht weggehen, ohne Ihnen das zu sagen.«
Sie hatte das Gefühl, zu schwanken. »Das klingt kein bisschen blöde.«
Sie sahen einander an. Standen nur da und sahen einander in die Augen, und irgendetwas geschah. Das gibt es nicht, schrie etwas in ihr, aber da war ein Kraftfeld zwischen ihnen, das alle Regeln aufhob und alle Vorbehalte unwirksam machte, das sie aufeinander zutrieb und sie sich umarmen ließ, und dann standen sie und fühlten einander, Ewigkeiten lang, ehe es ihre Lippen zueinander zog und sie forschten und verschmolzen und etwas, das stärker war als das Universum, riss sie mit sich fort in einen Tanz, der das Leben selbst war.
»Lass uns hinaufgehen in die Wohnung«, war der letzte klar artikulierte Satz, der an diesem Abend gesprochen wurde, und sie hätten später nicht mehr angeben können, wer von ihnen das gesagt hatte.
In dieser Nacht, um zwei Uhr dreißig, starb Cristoforo Vacchi, durch einen seltsamen Zufall wenige Minuten ehe ein schweres Erdbeben Mittelitalien erschütterte, mehrere Todesopfer forderte und die weltberühmte Basilika San Francesco in Assisi teilweise zerstörte. Die Erdstöße gingen von einem Epizentrum in der Bergregion Foligno aus und waren bis nach Rom und Venedig zu spüren, doch im vierten Stock der Kanzlei Vacchi in Florenz waren ein Mann und eine Frau zu sehr miteinander beschäftigt, um etwas davon zu bemerken.
36
McCaine wütete unter den Aktengebirgen auf dem Fußboden seines Büros. Es war so nicht länger auszuhalten. Und nachdem tags zuvor der Stahlschrank endlich angeliefert und, unter seiner Aufsicht selbstverständlich, aufgestellt und mit dem Boden verschraubt worden war, musste er es auch nicht länger so aushaken. Stapel um Stapel wurde gesichtet, zugeordnet, wanderte in ein Fach, einen Hängeordner, erhielt eine Registernummer und eine Kennkarte, fein säuberlich, jederzeit auffindbar, jederzeit greifbar. Im Eck stand ein Schredder, aber der bekam nicht viel zu tun: McCaine schätzte es nicht, Unterlagen zu vernichten. Nur zu oft war es schon segensreich gewesen, Einzelheiten längst abgeschlossener Projekte und Geschäfte nachschlagen zu können, sei es, um aus den eigenen Fehlern zu lernen, sei es, um Entwicklungen aktueller Gegebenheiten zu dokumentieren.
Der Schrank war ein Ungetüm, aber so geschickt eingepasst und mit edlem Walnussholz verkleidet, dass er kaum auffiel. McCaine hätte lieber Palisander gehabt, bloß war das nicht opportun für den Geschäftsführer eines Konzerns, der sich Umweltschutz auf seine Fahnen geschrieben hatte. Er musste auf solche Dinge achten. Er hatte schon Interviews in diesem Büro gegeben, auch den Wirtschaftsjournalisten verschiedener Fernsehsender, da wäre eine Schrankwand aus Tropenholz nicht gut gekommen. Obwohl das in seinen Augen Unsinn war und ein typisches Beispiel für die kurzsichtige Art und Weise, wie versucht wurde, Umweltprobleme zu lösen, ohne Berücksichtigung der Zusammenhänge nämlich. Seiner Ansicht nach war der wirkungsvollste Weg, die Brandrodungen in den Regenwäldern zu reduzieren, den Ländern zu ermöglichen, das darin wachsende Holz gewinnbringend zu verkaufen, anstatt es zu verbrennen. Aber er hegte keinerlei Hoffnung, das je einem Journalisten oder gar der Öffentlichkeit klarzumachen.
Immer wieder streckte er den Kopf zur Tür hinaus, aber der Empfangsbereich lag noch in frühmorgendlicher Stille und Verlassenheit. »Bin ich
Weitere Kostenlose Bücher