Eine Billion Dollar
Solche Belehrungen vor Ort hatte er schon in der Schule gehasst, aber es führte wohl kein Weg daran vorbei.
»Im Jahre 1480 wurde Ihr Urahn Giacomo Fontanelli geboren«, fuhr der alte Anwalt fort, den Blick auf die Statue gerichtet, und als John ihn von der Seite ansah, begriff er, dass alle diese längst vergangenen Ereignisse für diesen Mann eine Bedeutung besaßen, dass sie so sehr zu seinem Leben gehörten wie der Tag seiner Hochzeit. »Lorenzo hatte gerade eine Verschwörung überlebt, der sein Bruder zum Opfer gefallen war, und die Gelegenheit genutzt, sich seine Feinde vom Hals zu schaffen. Damit wuchs Giacomo Fontanelli auf in der Zeit, in der Florenz seine größte Blüte erlebte – eben die Regentschaft von Lorenzo dem Prächtigen.« Cristoforo deutete in Richtung der Kuppeln, die sich am gegenüberliegenden Ende der Kirche, vor der sie standen, über diese erhoben. »Dort drüben sind die Medici-Fürsten übrigens alle beigesetzt. Wollen wir einmal hineingehen?«
»Gern«, nickte John, ganz erschlagen von der Hitze, dem Staub, dem Lärm und der geballten Ladung Geschichte. Wenn man sich vorstellte, dass das alles noch vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus passiert war…
Er stellte es sich lieber nicht vor.
Sie gingen in weitem Bogen um den Platz und die Marktstände herum – »das ist der Canto dei Nelli«, erfuhr er dabei, ohne zu verstehen, was das bedeuten sollte –, bis sie schließlich den Eingang zu den Medici-Kapellen erreichten, wo sie einen lächerlich geringen Eintritt entrichteten und aus dem hitzedurchglühten Tumult der Straße in die kühle Stille der Krypta treten durften.
Zahlreiche Touristen mit schussbereiten Fotoapparaten wanderten umher, unwillkürlich leise und andächtig, und studierten die Inschriften, die sich auf verschiedene Mitglieder der Familie Medici bezogen. Cristoforo deutete auf den letzten Pfeiler auf der rechten Seite: »Dort ist die letzte der Medici bestattet, Anna Maria Ludovica. Hier steht es – gestorben 1743. Mit ihr endet das Geschlecht der Medici.«
Sie standen eine Weile schweigend, nahmen die Stille in sich auf, die Kühle, rochen den muffigen Geruch toter Jahrhunderte.
»Gehen wir weiter in die Sakristei«, meinte Cristoforo schließlich und fügte rätselhaft hinzu: »Die wird Ihnen gefallen.«
Sie durchquerten die dämmrige Krypta und kamen in einen kurzen Korridor, dem sie folgten, bis sie in einen weiten Raum gelangten, der in Sachen Prachtentfaltung alles in den Schatten stellte, was John jemals in seinem Leben gesehen hatte. Um ihn türmten sich Säulen, Nischen und Podeste aus weißem und pastellfarbenem Marmor, die Nischen aus dunklem Marmor umrahmten, schwarze Querbänder stützten, grandiose Weite ausstrahlten. John sah hinauf in die Kuppel, die sich emporwölbte wie das Firmament, und vergaß zu atmen. Und doch war diese Pracht erst der Hintergrund für eine Reihe von Marmorstatuen, die so echt und lebendig wirkten, dass man glauben konnte, die Figuren würden sich jeden Moment anfangen zu bewegen.
»Mein Gott«, hörte John sich murmeln. Er hatte nicht geahnt, dass es so etwas gab.
»Wunderbar, nicht wahr?«
John konnte nur nicken. Es kam ihm vermessen vor, dass er einmal geglaubt hatte, ein Künstler zu sein.
»Wer hat das gemacht?«, fragte er nach einer Weile.
»Michelangelo«, erklärte Cristoforo Vacchi. »Es war sein erstes Bauwerk.«
»Michelangelo…« Dieser Name rief etwas wach, erinnerte ihn an etwas, das weit zurücklag, aber er hätte nicht sagen können, woran.
Der Padrone deutete auf die Skulptur, vor der John stand und die einen Mann in der Pose tiefen Nachdenkens darstellte. »Diese Figur nennt man den Pensieroso«, erklärte er, »den Denker. Sie stellt Lorenzo den Jüngeren dar, der Enkel von Lorenzo dem Prächtigen. Dessen Grab ist unvollendet geblieben.« Er zeigte auf eine Nische neben dem Eingang. »Lorenzo starb im Jahr 1492, und sein Sohn Piero floh, als zwei Jahre später französische Armeen unter Karl dem Achten in Italien einfielen und unter anderem auch Florenz eroberten. Von Giacomo Fontanelli wissen wir nur, dass er mit seiner Mutter aus Florenz fortging, und wahrscheinlich suchten sie endgültig Zuflucht in dem Kloster, das sie auch früher schon beschützt hatte.«
John starrte die Skulptur an, glaubte sie für einen Moment atmen zu sehen und musste blinzeln, um diesen Eindruck zu verscheuchen. Er hatte Mühe, den Erklärungen des Padrone zu folgen. »Existiert dieses Kloster
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