Eine Billion Dollar
spüre er diesmal, was er damals nicht wahrzunehmen imstande gewesen war. »Ich habe es erst vor ein paar Wochen wirklich begriffen«, gestand er. »In Leipzig habe ich erfahren, dass ein Volk einfach aufstehen und sagen kann: ›Genug.‹ Und was dann passiert. Ich habe nur gestaunt. Ich habe mir gesagt, dass das ein besonderes Ereignis gewesen sein muss – zweifellos war es das –, aber ich habe nicht begriffen, dass sich hier ein grundlegendes Prinzip gezeigt hat.« Er hob eine Hand wie zur Kapitulation. »Sogar in den Demokratien kann man es beobachten, wenn man genau hinschaut. Es sind nicht nur die Wahlen alle paar Jahre, die eine Rolle spielen. Nein, fast jede Woche passiert es, dass irgendein Minister oder Staatssekretär scheinbar beiläufig eine Bemerkung fallen lässt oder einen Vorschlag äußert, und dann schaut man, wie die Bevölkerung reagiert. Wenn sich Unmut regt, kann man immer noch alles dementieren, beteuern, dass es nicht so gemeint war oder dass man falsch verstanden wurde. Auf diese Weise bestimmt das Volk permanent mit, was geschieht – sogar ohne es zu merken!«
Er richtete den Zeigefinger auf den Generalsekretär, spürte seine Hand beben. »Die Völker haben Sie nicht gewählt. Niemand, der in Ihrem Plenum sitzt, ist von der Bevölkerung gewählt worden. Die Vereinten Nationen haben keine demokratische Basis. Und deshalb sind sie schwach.«
»Ich glaube, ich ahne, was Sie vorhaben«, sagte Annan.
»Nein«, sagte John Fontanelli. »Das glaube ich nicht.«
Das vierstöckige Gebäude lag etwas zurückgesetzt vom Züricher Paradeplatz, dem Sitz aller Schweizer Großbanken und größten Geldumschlagsplatz der Alpenrepublik. Vom Fenster des Büros, in dem der Leiter der Fontanelli Foundation for Money Education, Ernst Färber, arbeitete, sah man einen der gusseisernen Löwen und einige der traubenartigen Laternen und hörte das Klingeln der Straßenbahnen.
»Vor einigen Jahrzehnten«, erklärte der vierschrötige Mann mit dem Oberlippenbart und den durchdringenden, kornblumenblauen Augen seinen Besuchern, »wurden überall in der Welt Kampagnen durchgeführt, die zum Ziel hatten, ein allgemeines Bewusstsein für die Notwendigkeit grundlegender Hygienemaßnahmen zu schaffen. Es folgten groß angelegte Feldzüge, jedem Erwachsenen, der es noch nicht konnte, Lesen und Schreiben beizubringen. Wir sehen unsere künftige Tätigkeit in dieser Tradition.«
Einer der Journalisten hob den Schreibstift. »Ähm… heißt das, Sie wollen den Menschen in der Dritten Welt das Rechnen beibringen?«
Färber fasste ihn ins Auge. Auf seiner Stirn bildete sich eine bedrohlich wirkende Falte. »Wenn Sie das schreiben junger Mann, werden Sie nie wieder zu irgendeiner Pressekonferenz eingeladen. Wir treten an, um allen Menschen den richtigen Umgang mit Geld beizubringen. Rechnen…? Das ist das wenigste. Das können die meisten durchaus.«
»Aber mit Geld umgehen doch auch«, warf ein anderer Reporter skeptisch ein.
»Meinen Sie? Warum gibt es dann so viele hoffnungslos überschuldete Haushalte? Warum arbeiten so viele Leute ihr Leben lang hart und sind am Ende doch arm? Wie viele Menschen haben nicht die leiseste Ahnung, wie viel Geld sie eigentlich wofür ausgeben?« Färber schüttelte den Kopf. »Ich werde Sie nachher noch mit Doktor Füeli bekannt machen, unserem Psychologen, der die Auffassung vertritt, dass die meisten Menschen mehr Probleme mit Geld haben als mit Sex. Ob Sie seine Meinung teilen werden, überlasse ich Ihnen, aber, meine Damen und Herren: Der Umgang mit Geld ist kein Luxusthema. Nichts, was man sich nebenbei mal anschauen kann, so wie man vor dem Urlaub in einem Reiseführer blättert. Geld ist elementar. Niemand kommt darum herum, nicht einmal ein Mönch im Kloster. Geldprobleme können Ihre Ehe scheitern lassen oder Sie krank machen, zu viele Schulden können Ihr früher Tod sein, und ob sich der Traum Ihres Lebens erfüllt oder nicht, kann durchaus davon abhängen, ob Sie die Kosten eines Kredits richtig kalkulieren können.«
Er führte die Schar der Presseleute durch das helle, frisch und luftig wirkende Haus, ließ sie Blicke in große und kleine Büros werfen, in denen emsig arbeitende Menschen an komfortabel ausgestatteten Schreibtischen saßen.
»Wir besitzen eigene Fernsehsatelliten, die jeden bewohnten Landstrich auf Erden erreichen«, erklärte er. »Ab kommenden Monat werden unsere Fernsehsender Unterrichtsprogramme in zunächst einhunderteinundzwanzig Sprachen
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