Eine Billion Dollar
gleich darauf hoch und entdeckte ihn in der Tür. Sofort raste sie zum CD-Player, um ihn auszuschalten. Die abrupte Stille war ohrenbetäubend.
»Scusi«, hauchte sie, während sie die Silberscheibe aus dem Gerät nestelte und zurück in die Hülle legte. »Ich habe ganz vergessen, dass Sie heute zurückkommen.« Sie deutete mit einer scheuen Bewegung umher. »Aber es ist alles aufgeräumt. Alles sauber, alles gemacht.«
»Va bene«, meinte John beruhigend, aber da huschte sie schon mit einem kaum vernehmbaren Buona notte an ihm vorbei hinaus, die CD mit dem Bild Marvins wie einen Schatz an ihre Brust gepresst.
John sah ihr nach, auf eine diffuse Weise beunruhigt von der Beobachtung, wie gravierend sich Geschmack und Wertvorstellungen von Menschen unterscheiden konnten. Und Marvin, meine Güte – von dem hatte er schon ewig nichts mehr gehört. Er hatte nicht den Hauch einer Vorstellung, wo der abgeblieben sein mochte.
Wenn Marvin hinaus durfte, zog es ihn die unwegsamen Hänge hoch, hinauf in die Wälder, die das Tal wie majestätische Wächter umringten. Dort streifte er stundenlang durch das Unterholz, stieg über umgestürzte Bäume, atmete die kalte, klare Luft und horchte auf die Stille, in der nur die Laute der Natur, sein eigener Atem und die Geräusche seiner Schritte zu hören waren. Wenn es nicht diese rotweißen Streifen an Bäumen und Stahlstangen gegeben hätten, die die Grenze zwischen dem Bereich, in dem er sich mit der elektronischen Fußfessel bewegen durfte, und dem Rest der Welt markierten, er hätte sich frei gefühlt wie noch nie.
Mittlerweile gewährten sie ihm schon bis zu vier Stunden am Nachmittag. Trotzdem kam das Tonsignal an seiner Wade, das ihn wieder zurückpfiff, immer unerwartet früh.
Von oben sah die Klinik aus wie ein elegantes weißes Landhaus, seltsam fehl am Platz inmitten der weglosen Einsamkeit. Dass die Fenster vergittert und die Zufahrtstraße bewacht war, all das sah man erst, wenn man näher kam. Und die anderen Patienten, Junkies allesamt, arrogante, kaltherzige Söhne aus reichen Familien, die schwarzen Schafe, die Papas monatlicher Scheck an diesen Ort im Niemandsland fesselte, die sah man erst, wenn man wieder durch die Tür trat. Marvin hasste diesen Moment.
An diesem Tag hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein im Wald.
Zu sehen war niemand. Es war eher… eine Witterung. Einer der anderen? Hoffentlich nicht. Marvin stapfte zurück bis zu einer Stelle am Waldrand, von der aus man das Klinikgelände übersah, und zählte die jämmerlichen Gestalten auf den Gartenwegen. Es fehlte keiner. Wer immer hier oben herumschlich, es war kein Patient.
Er beschloss, sich nicht darum zu kümmern. Er stieg seine Pfade durch das Gestrüpp hoch, keuchte vor sich hin und musste beim Anblick seines rauchweißen Atems an früher denken, die Stadt, die Abgase in den Straßen, seine Joints am Fenster. Das schien alles in einem anderen Leben stattgefunden zu haben. Er hätte schwören können, dass er seit hundert Jahren in der Klinik lebte, in dem Zimmer mit dem Gitterblick auf ein Stück Rasen so konturlos und langweilig wie ein grüner Teppich. Und wie es aussah, würde er bis an sein Lebensende hier bleiben.
Da war ein Mann. Er trug einen moosgrünen, gefütterten Parka und eine dunkelblaue Baseball-Kappe und stand plötzlich da im Unterholz, auf der anderen Seite der Grenzlinie, und beobachtete ihn reglos.
Marvin betrachtete ihn. Er konnte ihn einfach stehen lassen und seiner Wege gehen; schließlich war es nicht verboten, im Wald herumzustehen. Aber dann tat er es doch nicht, sondern rief ihm zu: »Hey! Wie geht’s?«
Der Mann hob grüßend eine Hand, winkte ihm, näher zu kommen.
» Sorry! «, rief Marvin zurück und deutete auf seinen rechten Fuß. »Ich hab da so ein Gerät am Knöchel sitzen, das haut mir ein Betäubungsmittel ins Bein, wenn ich weitergehe. Ist hier so üblich, wissen Sie?«
Er schien das zu verstehen, denn er bequemte sich herbei, ungelenk über Wurzeln und Stein staksend.
»Ist das wirklich so streng?«, fragte er, als er Marvin erreicht hatte.
Marvin zuckte die Schultern. »Spätestens zwanzig Schritte weiter schlägt der Alarm an. Hat was mit der Entfernung vom Sender zu tun. Und wenn sie mich mit Hunden holen müssen, gibt es Minimum zwei Wochen keine frische Luft.«
»Klingt schlimm.« Der Mann hatte ein derbes, vernarbtes Gesicht und einen buschigen Oberlippenbart. Marvin hatte das vage Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben,
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