Eine blaßblaue Frauenhandschrift
régime zu führen schien. Es roch nach vielfältiger Abgeblühtheit, nach allem Staub und nach Säuglingswindeln ringsum. Lange Kolonnen von Kinderwagen wurden an Leonidas vorbeigeschoben. Mütter und Bonnen führten die Drei- und Vierjährigen an der Hand, deren plapperndes greinendes Auf und Ab die Luft erfüllte. Leonidas sah, daß in den Kinderwagen ein Säugling dem andern zum Verwechseln glich, mit seinen geballten Fäustchen, den aufgeworfenen Lippen und dem tieeschäftigten Kindheitsschlaf.
Nach hundert Schritten fel er auf eine Bank. In diesem Augenblick arbeitete sich eine Strahlenspur Oktobersonne durch und besprengte den Rasen gegenüber mit einem dünnen Schauer. Vielleicht überschätzte er diese ganze Geschichte. Am Ende war Veras junger Mann gar nicht sein Sohn. Pater semper incertus, so erklärt schon das römische Recht. Die Verifzierung seines Sohnes hing schließlich nicht von Vera allein, sondern auch von ihm ab. Diese Vaterschaft konnte vor jedem Gericht bestritten werden. Leonidas wandte den Blick seinem Nachbarn auf der Bank zu. Dieser Nachbar war ein schlafender alter Herr. Es war eigentlich kein alter Herr, sondern nur ein alter Mann. Die räudige Melone und ein vorsintfutlich hoher Stehkragen deuteten auf eines jener Zeitopfer hin, das bessere Tage gesehen hatte, wie die mitleidslose Phrase lautete. Es konnte aber auch ein seit Jahren stellungsloser Kammerdiener sein. Die knotigen Hände des alten Mannes lagen schwer wie Vorwürfe auf den eingeschrumpften Schenkeln. Noch nie hatte Leonidas einen Schlaf gesehen wie diesen, den sein Nachbar schlief. Der Mund mit den tristen Zahnlücken stand ein wenig ofen, aber man merkte die Regung des Atems nicht. Überall liefen in diesem brachen Gesicht die tiefen Runzeln und Falten konzentrisch auf die Augen zu. Es waren Saumpfade, Karrenwege, Zufahrt-Straßen des Lebens, verschüttet insgesamt und zugewachsen in einem verlassenen Land. Nichts bewegte sich dort. Die wie nach innen gestülpten Augen aber bildeten zwei beschattete Sandgruben, in denen alles zu Ende war. Vom Tode unterschied sich dieser Schlaf unvorteilhaft dadurch, daß er noch einen Rest von Krampf und Angst bewahrte und eine schwache Abwehr unbeschreiblich …
Leonidas sprang auf, ging die Allee zurück. Schon nach wenigen Schritten torkelte und murmelte es hinter ihm:
»Herr Baron, ich bitt’ gehorsamst, seit drei Tagen hab ich nichts Warmes im Leib …«
»Wie alt sind Sie?« fragte der Sektionschef den Schläfer, dessen Augen auch im Wachen zwei leere unfruchtbare Gruben zu sein schienen.
»Einundfünfzig Jahre, Herr Graf«, klagte der Greis, als verrate er ein bereits ganz und gar unzulässiges Alter, das von Rechts wegen auf Unterstützung nicht mehr zu rechnen hat. Leonidas riß einen größeren Geldschein aus seiner Brieftasche, reichte ihn dem Gestrandeten und blickte sich nicht mehr um.
Einundfünfzig Jahre! Er hatte sich nicht verhört. Soeben war er seinem Doppelgänger begegnet, seinem Zwillingsbruder, der andern Möglichkeit seines Lebens, der er nur um Haaresbreite entgangen war. Vor fünfzig Jahren hatte man den greisen Schläfer und ihn, als Säuglinge zum Verwechseln ähnlich, durch eine Parkallee geschoben. Er war aber noch immer der schöne León, geschniegelt und gebügelt, mit seinem blonden Schnurrbärtchen, tadellos gebadet, ein Vorbild männlicher Frische und strafer Wohlgestalt. Auf seinem glatten Gesicht waren die Zufahrt-Straßen des Lebens nicht verschüttet, nicht leer, sondern heiter befahren. Da eilten alle Sorten des Lächelns dahin, der Liebenswürdigkeit, des Spottes, der guten und bösen Laune, die Lüge in allen Ausführungen. Er schlief keinen füchtigen agonischen Schlaf auf der Parkbank, sondern den gesunden, runden, regelmäßigen Schlaf der Geborgenheit in seinem großen französischen Bett. Welche Hand hatte ihn, den Hauslehrer bei Wormsers, diesen Jämmerling mit der geplatzten Hose, dem sicheren Rachen des Untergangs entführt, um den andern Kandidaten hineinzustoßen? Er hielt sein Glück, seinen Aufstieg nicht mehr wie sonst für das persönlich verdienstvolle Zusammenspiel gewisser Talente. Das Gesicht des gleichaltrigen Wracks hatte ihm den Abgrund gezeigt, der ihm nicht minder zugedacht gewesen als jenem und durch dieselbe unergründbare Ungerechtigkeit ihm selbst erspart geblieben war.
Ein schwarzes Grauen wandelte Leonidas an. In diesem Grauen aber steckte ein verwischter heller Fleck. Der helle Fleck wuchs. Er wuchs zu
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