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Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Titel: Eine blaßblaue Frauenhandschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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reine Gegensatz des Sektionschefs, dieses Mannes nach der Mode. Er setzte soeben, nicht ohne eine gewisse Leidenschaftlichkeit, zwei jüngeren Ministerialräten und dem rothaarigen Professor Schummerer auseinander, wie glänzend er in diesem Jahre seinen Sommerurlaub eingerichtet hatte. Mit der ganzen Familie, ›leider siebenköpfg‹, wie er immer wieder betonte:
    »Am schönsten See des Landes, ich bitte, am Fuße unsres imposantesten Gebirgsstockes, ich bitte, der Ort wie ein Schmuckkästchen, keine Elegance, aber Saft und Kraft, mit Freibad und Tanzgelegenheit für die liebe Jugend, mit Autobus in jede Richtung, ich bitte, und mit gepfegten Promenaden für Gicht und Angina pectoris. Drei prima Zimmer im Gasthof, kein Luxus, aber Wasser, fießend, kalt und warm, und alles, was man sonst noch braucht. Den Kostenpunkt werden die Herren nicht erraten. Sage und schreibe fünf Schilling pro Kopf. Das Essen, ich bitte, brillant, üppig, mittags à drei Gänge, abends à vier Gänge. Hören Sie: Eine Suppe, eine Vorspeise, Braten mit zwei Gemüsen, eine Nachspeise, Käse, Obst, alles mit Butter oder bestem Fett zubereitet, auf mein Wort, ich übertreibe nicht …« Dieser Hymnus wurde dann und wann durch die zustimmend grunzende Bewunderung der Hörer unterbrochen, wobei sich ein jüngeres schwammiges Gesicht mit einer Stupsnase rühmlich hervortat. Leonidas aber trat ans Fenster und starrte auf das ernste vergeisterte Gemäuer der gotischen Minoritenkirche, die dem Palais des Ministeriums gegenüberlag. Dank Amelie, dank seiner Kinderlosigkeit, hatte er es nicht notwendig gehabt, in der grenzenlosen Banalität des kleinbürgerlichen Lebens zu versinken wie dieser alte Skutecky und all die anderen Kollegen, die ihre bevorzugte Stellung durch äußerst magere Bezüge abbüßten. (Der Beamte hat nichts, das aber hat er sicher, sagt der Wiener Komödiendichter.) Leonidas berührte mit der Stirn das kalte Fensterglas. An die linke Flanke der geduckten Kirche schmiegte sich ein zausiges Vorgärtlein, aus dessen Rasen ein paar ziemlich verhungerte Akazienbäume emporwuchsen. Die regungslosen Blätter schienen der Natur aus Wachs täuschend nachgebildet zu sein. Der schöne Platz glich heute dem dumpfen Lichtschacht einer Mietskaserne. Den Himmel sah man nicht. Es wurde immer dunkler im Zimmer. Leonidas war so tief in der Leere seiner Verstörtheit versunken, daß er das Erscheinen des Ministers gar nicht bemerkt hatte. Ihn weckte erst die hohe, ein wenig belegte Stimme dieses Vinzenz Spittelberger:
    »Grüß Gott die Herren alle miteinand’, Servus, Servus …«
    Der Minister war ein kleiner Mann in einem verdrückten und zerknitterten Anzug, der den Verdacht erregte, sein Träger habe mehrere Nächte in ihm schlafend zugebracht. Alles an diesem Spittelberger war grau und wirkte sonderbar ausgewaschen. Die Haare, die in Bürstenform in die Höhe standen, die schlecht rasierten Backen, die stark vorgewölbten Lippen, die Augen, die exzentrisch schielten – man nannte das hierzulande ›himmeln‹ –, ja selbst der Spitzbauch, der unvermittelt und unbegründet unter dem bescheidenen Brustkasten vorsprang. Der Mann stammte aus einem der Alpenländer, nannte sich selbst in jedem zweiten Satz einen Bauern, war’s aber keineswegs, sondern hatte sein ganzes Leben in großen Städten zugebracht, zwanzig davon in der Hauptstadt, als Lehrer und zuletzt Direktor einer Fortbildungsschule. Spittelberger machte den Eindruck eines tagblinden Tieres. Der altmodisch-eigensinnige Klemmer vor seinen himmelnden Augen schien diesen nicht zum Sehen zu verhelfen. Sogleich, nachdem er den Präsidentensitz an dem Beratungstisch eingenommen hatte, sank sein großer Kopf voll gleichgültigen Lauschens gegen die rechte Schulter. Die Beamten wußten, daß der Minister in den letzten Tagen eine Reihe von politischen Versammlungen im ganzen Lande abgehalten hatte und erst am frühen Morgen mit dem Nachtzug aus einer entfernten Provinz angekommen war. Spittelbergers Natur stand im Rufe einer stets schlaedürftigen Unverwüstlichkeit:
    »Ich habe die Herren hierher gebeten«, begann er mit heiserer Eiligkeit, »weil ich beim morgigen Ministerrat die Sache mit den Berufungen gern unter Dach und Fach bringen möchte. Die Herren kennen mich. Ich bin expeditiv. Also, lieber Skutecky, wenn ich bitten darf …«
    Er lud mit einer halben, fast wegwerfenden Geste die Beamten zum Sitzen ein, zog aber den Professor Schummerer auf den Platz zu seiner Rechten.

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