Eine Braut für alle
die Wagentür zu.
Ich für meine Person finde Victoria Station sehr unterhaltsam. Während die anderen Londoner Bahnhöfe kaum aufregendere Ziele als Glasgow haben, ist es hier stets vergnüglich, an Winterabenden auf dem Abfahrt-Bahnsteig strahlende junge Urlauber mit den Skiern auf den Schultern ihrem Ferienglück entgegenstreben, und auf dem Ankunft-Bahnsteig mit Gipsverbänden und Krücken herumhumpeln zu sehen. Im Sommer wimmelt es von Eimerchen, Schaufelchen, nackten Knien und Kinderchen, die sich vor den Fahrkartenschaltern übergeben, und das ganze Jahr lang fühlt wohl jedermann ein innerliches Prickeln, wenn er während des Wartens auf einen Zug nach Balham die Tafel «Zu den Zügen nach dem Kontinent» erblickt.
«Der Schiffszug scheint bereits eingetroffen zu sein», bemerkte Miles, als wir uns durch die Menge bei den Schranken bahnten.
«Wenn du sprachliche Hemmungen hast: der Mann von Cook dort drüben brennt danach, eine französische Ansprache zu halten», machte ich ihn aufmerksam.
«Lieber Gaston, ein bißchen Intelligenz könntest du mir schon Zutrauen. Wir dürften wohl imstande sein, die junge Frau ohne Schwierigkeiten zu identifizieren. Maiglöckchen sind schließlich recht ungewöhnliche Blumen.»
Ich nickte. «Dann ist es also diese grauhaarige liebe Alte dort mit dem Eßkorb.»
Miles runzelte die Stirne.
«Oder dieser Bub mit der Lutschstange. Oder gar dieser Vogel mit dem Schnurrbart und dem Astrachankragen? Der trägt ein ganzes Büschel davon.» Ich lachte. «Weißt du, was für einen Tag heute ist?»
«Was für ein Tag? Der erste Mai, natürlich.»
«Ja, der Tag, an dem die Franzosen Maiglöckchen korbweise kaufen und sie anstecken - nur nennen sie sie muguets .»
Miles biß sich auf die Lippen. «Wie ungeschickt!»
«Mach dir keine Sorgen, wir können unsere Diagnose noch immer nach dem Magazin stellen.» Ich faßte die Menge ins Auge. «Wie wär’s mit jener kleinen Blondine?»
Eigentlich hatte ich nichts mehr dagegen einzuwenden, bei Sir Lancelot Geschirr zu waschen.
«Das bezweifle ich. Lady Spratt sagte, es sei eine reife Frau und I äußerst achtbar - Tochter irgendeines kleineren fonctionnaire.»
Düsteren Blickes ließ mein Cousin ein Paar Nonnen die Schranken passieren, denen im Gänsemarsch Schulmädchen folgten, von muguets besät. Dann begann er sich unbegleiteten Frauen zu nähern, indem er den Hut zog und mit seinem «Est-ce que vous êtes la bonne de Sir Lancelot Spratt?» loslegte; aber es trug ihm nichts anderes ein als schmutzige Blicke.
«Du könntest mir wohl ein bißchen helfen», sagte er ungeduldig, «statt herumzustehen und Münzen in Automaten zu werfen.»
«Mir knurrt der Magen», erklärte ich. «Hab keinen Lunch gehabt.»
«Hol dich der Teufel», stieß Miles hervor.
Nun, ich war auch schon recht nervös geworden: der Bahnsteig war leer bis auf einige Afrikaner in langen Gewändern, mit denen , uns bestimmt nicht gedient war. Doch in ebendiesem Augenblick tauchte eine recht ehrsam aussehende Frau mittlerer Jahre in einem Teddybärmantel hinter einem Stapel Kisten auf; sie trug ein Magazin, und allenthalben sprossen Maiglöckchen üppig aus ihr hervor.
« Pardonnez-moi », begann Miles neuerlich. «Mais êtes-vous engagée à Sir Lancelot Spratt?»
Sie lächelte freundlich. «Que vous êtes gentil!»
«Gott sei Dank!» rief Miles erleichtert aus. «Gaston, nimm den Koffer der Dame. Par ici, Mademoiselle. Nous avons l’auto dans dem qu est-ce que c’est draußen.»
«Comment? Vous êtes venus me chercher en auto?»
«Seulement le meilleur est assez bon pour la bonne», sagte ich, einigermaßen stolz auf meine sprachliche Wendigkeit.
Wir drei verfrachteten uns in den Alvis und sausten zur Harley Street zurück.
20
«Moral ist letzten Endes bloß eine Sache des Breitengrades», erklärte Sir Lancelot Spratt munter. «Was innerhalb einer gesitteten Gesellschaft auf Bali gang und gäbe ist, wäre am Berkeley Square nie und nimmer angebracht.»
«Ahem», sagte der Bischof.
Miles hatte den Boiler entzündet und ein bißchen ausgeputzt, und wir vier genehmigten uns im Salon ein Glas Sherry, während Lady Spratt das neue Mädchen droben installierte.
«Die unselige britische Bevölkerung ist überreich von Moralisten heimgesucht worden.» Sir Lancelot stand vor dem Kamin und strich sich den Bart. «Wahrhaftig, man hat sie seit Oliver Cromwell kaum je in Frieden ihren natürlichen Instinkten nachgehen lassen. Kein Wunder, daß unsere
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