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Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Gidwitz
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Schwarzen Waldes und spähte in das Dunkel. Sie bekam Gänsehaut. Am Rande des Waldes trugen die Bäume die roten und gelben Blätter des Herbstes, aber Gretel konnte erkennen, dass die Äste tiefer im Wald kahl waren. Der Ascheweg verlief weit ins Dunkel hinein und verlor sich in der Ferne.
    Für einen Moment zögerte Gretel. Der Wald war ein böser Ort. Jeder wusste das. Sollte sie einfach umkehren? Aber dann würde der junge Mann denken, dass sie feige sei. Oder noch schlimmer, er könnte denken, dass er ihr egal sei. Das konnte Gretel nicht zulassen. Sie atmete tief ein. Dann tauchte sie in die Dunkelheit ein und streute hinter sich eine Spur aus Linsen.
    Während sie ging, wurde die Luft kälter und die Bäume schirmten das Sonnenlicht vollkommen ab. Gretel bekam Angst. Die Äste hingen herab wie versteinerte Klauen. Nebelwolken zogen vorbei wie der letzte Hauch verstorbener Seelen. Die Bäume waren knorrig und rissig, verstümmelt von der Zeit. Kein einziger Vogel war in diesem Wald zu hören. Die Äste wurden immer länger, und schon bald schien es Gretel, als würden sie versuchen, ihr Haar und ihre Wangen zu berühren und ihre weiche Haut zu kratzen. Sie trat über gewundene Wurzeln, die aus dem Boden ragten wie zum Leben erwachte Tote, die sich durch die Friedhofserde nach oben gruben.
    Dann begann es zu regnen. Die Regentropfen waren eiskalt und fühlten sich an wie Nadeln, die vom Himmel herabfielen. Der Regen prasselte auf die Rinde der Bäume und machte dabei schaurige Geräusche, die sich fast wie Worte anhörten. Gretel hielt an und hörte genau hin. Die Worte schienen zu sagen:
    Kehr um, kehr um, du junge Frau,
    du gehst zu einem Mörderhaus.
    Für einen Moment blieb sie stehen und überlegte, ob sie dem Rat des Regens folgen sollte. Aber dann schüttelte sie ihren Kopf. »Du benimmst dich lächerlich«, sagte Gretel zu sich selbst. »Der Regen kann nicht sprechen.«
    Natürlich kann der Regen nicht sprechen, Gretel. Der Mond verspeist Kinder, Finger können Türen öffnen und abgeschlagene Köpfe lassen sich einfach wieder aufsetzen.
    Aber Regen? Sprechen? Mach dich nicht lächerlich, Gretel!
    Sie ging weiter durch die Dunkelheit und duckte sich, um den verwachsenen Ästen, die nach ihr griffen, auszuweichen. Die ganze Zeit über verteilte sie Linsen auf dem Weg. Endlich kam sie zu einer Lichtung.
    In ihrer Mitte stand ein heruntergekommenes Haus. Früher waren seine Wände wohl schwarz gewesen, aber die Farbe hatte sich gelöst und man konnte das verrottende Holz darunter erkennen. Es war ebenfalls schwarz. Das steinerne Dach ragte hoch hinauf und unter dem Schiefer befand sich eine lange Reihe dunkler Fenster. Von der Regenrinne hingen Käfige, in denen je ein weißer Vogel saß. Sie ähnelten Tauben, waren aber schmutzig und zerrupft und voller brauner Flecken. Als Gretel auf die Lichtung trat, sagte einer der Vögel mit einer Stimme, die mehr an eine Krähe als an eine Taube erinnerte:
    Kehr um, kehr um, du junge Frau,
    du stehst vor einem Mörderhaus.
    Dann wiederholte ein anderer Vogel die Worte und dann wieder ein anderer. Ihre krächzenden Stimmen verbanden sich zu einem schaurigen Chor.
    Kehr um, kehr um, du junge Frau,
    du stehst vor einem Mörderhaus.
    Psst!
    Gretel!
    GRETEL!
    Was tust du? Dreh um! Geh nach Hause! Geh nach Hause!
    Lieber Leser, du würdest nach Hause gehen, nicht wahr? Du würdest auf so einen Mann nicht hereinfallen. Du würdest umdrehen und gehen.
    Bitte sag, dass du es tun würdest.
    Oh nein, das würdest du nicht.
    Nicht wenn dort jemand, den du zutiefst verehrst und bewunderst, auf dich und nur auf dich allein wartet.
    Ist es dir schon einmal passiert, dass der coolste Junge oder das begehrteste Mädchen gerade dich zu mögen schien? Gerade dich, obwohl es doch so viele andere gäbe?
    Stell dir vor, dass er oder sie in diesem Haus ist und auf dich wartet. Auf dich allein.
    Was würdest du tun?
    Oder besser, was würdest du nicht tun?
    Gretel folgte der Spur aus Asche die Stufen hinauf. Die schwere Ebenholztür stand ein Stückchen offen.
    »Hallo?«, rief sie. Keine Antwort. Langsam und ängstlich öffnete sie die Tür und ging in den Korridor. Alles war dunkel, bis auf einen Schimmer aus einem Treppenaufgang, der in den Keller hinab führte. Sie folgte dem schwachen Licht nach unten, indem sie auf den knarzenden Stufen einen Fuß vorsichtig vor den anderen setzte.
    Sie fand sich in einer alten, dreckigen Küche wieder.Schmutzige Töpfe und Pfannen waren auf dem

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