Eine dunkle & grimmige Geschichte
zurück!«
Das musste man Gretel nicht zweimal sagen. Sie rannte nach oben und zur Tür hinaus. Aber an der Tür des Hauses hielt sie abrupt an. Es regnete große, schwere Tropfen und von dem Ascheweg war nichts mehr zu sehen. Sogar die Linsen waren im Schlamm versunken. Gretel wusste nicht, wie sie nach Hause kommen sollte.
Aber dann bemerkte sie etwas Unglaubliches: Die Linsen waren gesprossen. In der kurzen Zeit, die sie in dem Haus gewesen war, waren kleine, grüne Keimlinge emporgeschossen. Ein hellgrüner Pfad wies ihr den Weg durch den Wald. Sie rannte, so schnell sie nur konnte.
Als Gretel in dem Haus der Witwe angekommen war, ging sie sofort in ihr Zimmer und sperrte sich ein. Die Witwe kam zur Tür, lehnte ihren Kopf gegen das Holz und fragte, ob es ihr gut ginge. Gretel antwortete nicht.
Sie hatte ihr Gesicht im Kopfkissen vergraben. Sie sahimmer noch den jungen Mann und die helle Klinge vor sich, wie sie die Luft zerteilte und auf das unschuldige Mädchen auf dem Tisch herabsauste. Und plötzlich gehörte die Klinge nicht mehr zu dem jungen Mann. Es war die Klinge vom Schwert ihres Vaters und das unschuldige Mädchen war sie selbst. Ihr weißer Nacken war dem kalten, aufblitzenden Stahl hilflos ausgesetzt. Sie sah das Gesicht des jungen Mannes und das ihres Vaters ineinander verschwimmen.
»Gibt es keine guten Erwachsenen?«, rief sie. Sie wünschte, ihr Bruder wäre hier. Aber sie war allein. Er war tot.
Das ist alles meine Schuld, dachte Gretel, und plötzlich erkannte sie, dass sie das die ganze Zeit schon gewusst hatte. Es ist meine Schuld. Wir hätten nie von zu Hause weglaufen sollen. Wir hätten nicht die Wände des Hauses im Sumpf essen sollen und ich hätte Hänsel nicht alleine in den Wald gehen lassen sollen – nicht ein Mal, nicht zwei Mal und sicherlich nicht drei Mal. Sie zitterte am ganzen Körper. Alle Erwachsenen wollen mich töten! Ich kann sie dafür nicht einmal verurteilen! Was ist nur los mit mir? Warum bin ich so schlecht? Sie schüttelte sich.
»Sei nicht dämlich«, sagte da eine Stimme.
Gretel sah verwundert auf.
Sie war ganz allein im Zimmer. Wer also hatte gesprochen? Sie lauschte an der Tür. Die Witwe war weggegangen.
Sie sah zum Fenster. Auf dem Fenstersims saß ein schwarzer Rabe. Gretel schaute ihn neugierig an.
Er klopfte mit seinem schwarzen Schnabel gegen das Glas.Und dann krächzte er: »Hast du was dagegen, wenn wir reinkommen?«
Gretel wischte sich die Tränen von den Wangen und ging zum Fester.
»Wir?«, fragte sie.
»Ja, meine Brüder und ich.«
Gretel machte das Fenster auf und drei rabenschwarze Raben flatterten herein.
»Du solltest ihr nicht sagen, dass sie dämlich ist«, sagte der zweite Rabe zum ersten. »Das ist unhöflich.«
»Selbst, wenn es wahr ist«, sagte der dritte.
Der erste Rabe räusperte sich. »Wir sind gerade vorbeigeflogen und haben gesehen, dass du traurig bist. Da fühlten wir uns schlecht.«
»Persönlich verantwortlich für deine Traurigkeit«, sagte der zweite Rabe.
»Unbeabsichtigt mitschuldig«, sagte der dritte.
Gretel, die einen langen, langen Tag gehabt hatte, setzte sich auf ihr Bett und starrte die Raben an.
»Weißt du«, fuhr der erste Rabe fort, »das ganze Unglück, das dir und deinem armen Bruder widerfahren ist, ist das Resultat einer ... sagen wir, indiskreten Konversation, die wir drei hatten.« Er legte entschuldigend seinen Kopf schief.
Gretel starrte ihn immer noch wortlos an.
»Indiskret«, flüsterte der zweite Rabe.
»Geht es noch etwas deutlicher?«, sagte der erste.
Der dritte Rabe verdrehte die Augen. »Indiskret, mein liebes Mädchen, bedeutet, dass wir an dem Ort, wo wirdarüber gesprochen haben, nicht über das hätten sprechen sollen, über was wir gesprochen haben.«
»Das war wirklich hilfreich«, sagte der zweite Rabe. »Warum erklären wir ihr nicht einfach die ganze Geschichte?«
Die drei Raben rückten ihre Federn zurecht, machten es sich auf dem Fenstersims gemütlich und erzählten Gretel die Geschichte von Anfang an. Sie erzählten ihr von dem letzten Wunsch ihres Großvaters und davon, wie ihr Vater das Porträt der Goldenen Prinzessin trotzdem gefunden und daraufhin ihre Mutter gestohlen hatte ...
»Er hat was gemacht?«, unterbrach ihn Gretel.
»Wir fahren jetzt besser fort«, sagte der zweite Rabe.
Dann erzählten sie ihr von ihrer indiskreten Unterhaltung und wie der treue Johannes die Unterhaltung mitgehört und das Leben ihrer Eltern gerettet hatte.
»Du siehst
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