Eine dunkle & grimmige Geschichte
getan hatte. Und erst an dem furchtbaren Tag, an dem sie euch die Köpfe abschlugen, standen sie mir bei. Erst an diesem Tag waren sie gewillt, meine Last auf sich zu nehmen. Das hat mich ins Leben zurückgeholt. Ich verstehe dich. Aber das ist leider nicht gut genug. Denn nicht von mir brauchst du Verständnis.«
Plötzlich schüttelte ein furchtbarer Hustenanfall den alten Mann. Er krümmte sich und richtete sich auf. Hänsel hielt ihn an den Schultern. Erst nach einer Weile konnte er sich wieder zurücklegen. Auf seinen Lippen und seinem Gesicht war Blut.
»Hör mir zu, Hänsel. Hör mir genau zu.« Johannes’ Stimme war leise und er war schwer zu verstehen. Hänsel legte seinen Kopf ganz nahe an Johannes’ Lippen, genau wie dieser es Jahre zuvor bei seinem Großvater getan hatte.
»Es gibt etwas Böses … etwas Böses im Land Grimm. Wegen der Trauer und der Schwäche des Königspaares konnte ein Drache in das Königreich gelangen.«
Hänsel wollte aufspringen, aber der Griff des alten Mannes an seinem Ärmel hielt ihn zu Boden gedrückt. »Hör mir zu. Der Drache hat Besitz von einem der Bewohner des Königreichs genommen und lebt in ihm wie eine Krankheit.«
»Von wem?«
Johannes gab ihm ein Zeichen, still zu sein. Es war für ihn mittlerweile sehr schwierig zu sprechen. »Ihr müsst den Drachen töten. Du und Gretel.«
»Warum wir?«
»Weil es eine Zeit gibt, in der ein Königreich seine Kinder braucht«, sagte Johannes.
Hänsel saß ganz still unter dem rosafarbenen Himmel. Er dachte an das Land Grimm und seine Eltern und an die vergangenen Jahre. Er dachte an seinen Schmerz und die Last, die er mit sich trug.
Und er dachte an das, was Johannes über das Einanderbeistehen gesagt hatte.
»Wir werden zu ihnen gehen«, sagte Hänsel. »Ich werde Gretel finden und wir werden unsere Eltern und das Königreich retten.«
Der alte Mann lächelte. Er ergriff Hänsels Hand. Sie saßen nebeneinander, als der Himmel sich von Dunkelrosa in Dunkelblau verfärbte und dann schließlich schwarz wurde. Hänsel sah den Sternen beim Aufgehen zu – einer, zwei, drei …
Er drehte sich zu Johannes. Der alte Mann starrte nach oben, aber seine Augen waren gebrochen. Hänsel winkte mit den Händen vor seinem Gesicht und berührte seinen Nacken. Johannes war tot.
E s war einmal ein kleines Mädchen, das trat in ein Gasthaus am Straßenrand. Als sie in der Tür stand, schüttelte sie ihren Reisemantel und ein nasser Schauer ergoss sich auf den groben Holzboden. Draußen ließ der kalte Atem des Winters die Äste erzittern und die Straße war ein Gemisch aus Wasser und Eis.
Gretel setzte sich neben den Kamin. Der Wirt brachte ihr einen Zinnkrug. Sie bezahlte ihn mit Geld aus dem Beutel, den die Dorfbewohner ihr zum Abschied gegeben hatten. Bedrückt starrte sie ins Herdfeuer und beobachtete, wie die warme Glut der großen Holzscheite langsam zu kalter Asche wurde. Sie wusste genau, wie sich das anfühlte.
Mehrere Monate hatte sie auf der Straße verbracht und gesehen, wie die roten Blätter braun geworden und dann von den Ästen gefallen waren. Dann waren die ersten Schneeflocken vom grauen Himmel gefallen – zuerst nurfeines, tanzendes Weiß, dann schwere Flocken, die sich bergeweise vor Gretel auf der gefrorenen Straße auftürmten. Sie wickelte sich fester in ihren Reisemantel, aber die Kälte drang durch ihn hindurch und ging ihr durch Mark und Bein. Von Zeit zu Zeit rutschte sie aus und landete im Schnee – oder schlimmer, in einer Pfütze aus Eiswasser. Sie hatte kein Ziel, und ihr war es jeden Tag gleichgültiger, wohin sie ging.
Sie hatte mit und ohne Eltern gelebt, in Häusern und in der Wildnis. Glücklich war sie nie gewesen.
Hänsel war tot.
Sie legte ihren kleinen goldenen Schopf neben ihre Tasse auf den alten Gasthaustisch. Die Oberfläche war ganz klebrig von den vielen verschütteten Getränken. Gretel war das egal. Sie schloss ihre Augen.
Mit einem lauten Knarzen ging die Tür auf. Gretel hob den Kopf. Ein Mann stand im Türrahmen: »Er ist zurückgekehrt!«, brüllte er. Seine Stimme überschlug sich vor Angst. »Er ist zurück ...«
Die Leute im Gastraum sprangen alle auf ihre Beine.
»Unsere Stadt ist verloren!«, rief der Mann.
Es entstand ein großes Durcheinander. Einige drängten sich an dem Mann vorbei auf die matschige Straße und liefen so schnell sie konnten.
»Was meinst du mit verloren ?«, fragte jemand.
»Alle sind verloren«, rief der Mann in der Tür. »Die Häuser,
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