Eine dunkle & grimmige Geschichte
Meister Beck, die Bäckerei, Frau Hoppe ...«
»Alle?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich habe Leichen gesehen.« Er schüttelte den Kopf. »Viele Leichen.«
Der ganze Raum schien aufzustöhnen. Einige setzten sich hin, andere schlugen die Hände vors Gesicht.
»Ich war in den Hügeln über der Stadt«, sagte der Mann, »als ich sah, wie er am Himmel über der Stadt kreiste. Ich wollte in die Stadt, um die Bewohner zu warnen, aber ich hatte nicht genug Zeit. Außerdem musste ich bei ihr bleiben.« Hinter dem Bein des Mannes lugte ein kleines Mädchen hervor. Sie versteckte ihr Gesicht in ihren Händen, aber man konnte Schmutz und Spuren von Tränen darin erkennen.
Der Mann erzählte weiter. »Er kreiste drei oder vier Mal. Ich konnte Leute schreien hören. Dann stellte er sich schräg und begann zu sinken. Er sauste auf Frau Hoppes großes Steinhaus zu. Das halbe Gebäude stürzte zusammen. Ich sah jemanden – vielleicht war es Frau Hoppe – durch die Luft fliegen und dann auf dem Boden aufprallen.«
»Und danach?«, fragte jemand.
Der Mann zitterte, sagte aber kein Wort mehr. Ein älterer Mann führte ihn zu einem Stuhl und brachte ihm ein Getränk. Der Mann legte den Kopf in die Hände. Eine große, korpulente Frau kam hinter der Bar hervor, hob das kleine Mädchen hoch, nahm es auf den Arm und trug es eine Treppe im hinteren Teil des Gasthauses hinauf. Als die beiden verschwunden waren, erhob sich ein großes Stimmengewirr in der Gaststätte. Gretel versuchte, etwas zu verstehen, aber sie sprachen alle durcheinander und viel zu laut. Über was sprachen sie? Was hatte dieses Monstergetan? Nach einer Weile hörte sie aus dem Lärm immer wieder ein Wort heraus: Drache .
Gretel stand in der Nähe von drei Leuten, zwei Männern, ein Großer und ein Bärtiger, und einer Frau, die mit dem Rücken zu Gretel stand.
»Man sagt, er sei menschlich«, sagte der Bärtige.
»Halb menschlich«, wiederholte der Große. »Und halb Drache.«
»Der Priester hat gesagt, er sei früher ein Mann gewesen, aber jetzt ist er vom Geist eines Drachen besessen«, sagte die Frau.
»Es muss ein teuflischer Mann sein, der von einem Drachen besessen sein kann.«
»Nein«, antwortete die Frau. »Der Priester sagte, dass es nicht so ist. Er habe nur eine traurige Seele.«
»Ja, das habe ich auch gehört«, sagte der bärtige Mann.
Der große Mann rieb sich das stoppelige Kinn. »Sie haben einen Mann in Walden getötet. Sie dachten, er sei der Drache.«
»Da lagen sie wohl falsch.«
»Er war es nicht. Er hatte sogar Kinder.«
»In Hamelstadt haben sie sechs Brüder umgebracht«, erzählte die Frau.
»Das ist doch nur ein Gerücht.«
»Es ist wahr. Mein Cousin hat es gesehen.«
»Schrecklich«, sagte der Bärtige.
»Furchtbar«, sagte der Große.
»Grauenhaft«, sagte die Frau.
»Entschuldigung«, sagte Gretel. Sie stand in der Nähedes Ellenbogens der Frau. Die Frau schien sie nicht zu hören. Gretel zupfte an ihrem Ärmel. »Entschuldigung«, wiederholte sie. Die Frau drehte sich herum. Ihr Gesicht war blass, ihr Haar hing strohig und schlaff herunter und schwarze Ringe umrahmten ihre Augen.
»In welchem Königreich bin ich hier?«, fragte Gretel.
»Im Königreich Grimm«, antwortete die Frau.
»Im ehemaligen Königreich Grimm«, sagte der Bärtige kläglich. »Jetzt sind es nur mehr die Ruinen von Grimm.«
»Warum fragst du?«, sagte der Große.
Gretel hatte einen Kloß im Hals. »Haben der König und die Königin Kinder?«, fragte sie leise.
Die Frau und die Männer warfen sich Blicke zu. »Sie hatten Zwillinge. Ein Mädchen und einen Jungen. Aber sie sind weg, die Armen. Sie verschwanden eines Nachts und niemand weiß, wohin.«
»Kurz danach tauchte der Drache auf«, fügte der Bärtige hinzu.
»Stimmt«, sagte der Große. »Kurz danach. Wohin führt dich denn dein Weg?«
Gretel zögerte. »Ich … ich weiß nicht so genau«, antwortete sie. Sie bedankte sich bei der Gruppe und ging zur Tür. Dort standen zwei Männer und unterhielten sich ebenfalls über den Drachen. Sie blieb nachdenklich neben ihnen stehen. Nach einer Weile bemerkte sie einer der Männer, stieß den anderen in die Seite und beide drehten sich zu Gretel um.
»Kann ich dir helfen, meine Kleine?«
Sie biss sich auf die Unterlippe. Dann fragte sie. »Wo istder Weg zum Schloss?« Sie sagte das zögerlich, als sei sie sich nicht sicher, ob sie es überhaupt wissen wolle.
Die beiden Männer zeigten mit ihren von der Arbeit gegerbten Händen in eine
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