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Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Gidwitz
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gingen weiter. Nach einem kurzen Moment stolperte er ein zweites Mal, aber dieses Mal fiel er zu Boden.
    Hänsel versuchte, ihm erneut auf die Beine zu helfen, aber der alte Mann atmete schnell. »Ich muss mich kurz hinlegen«, sagte er. Die Verfolgungsjagd mit dem Teufel hatte ihn sehr viel Kraft gekostet. Und so setzte sich Hänsel neben den Mann, und weil er ihn darum bat, erzählte Hänsel von seiner Zeit in der Hölle und wie es ihm gelungen war zu entkommen.
    Der alte Mann lachte, als er hörte, wie sich Hänsel als des Teufels Großmutter verkleidet hatte, und er lachte noch mehr, als Hänsel ihm berichtete, wie er den Teufel in den Schlaf gesungen hatte. Aber schon bald ging das Lachen des alten Mannes in Husten über. Er legte seinen Kopf ins Gras und versuchte, ruhig zu atmen. Nach einer Weile ergriff er Hänsels Hand.
    »Ich kann nicht weitergehen«, sagte er. Sogar das Sprechen fiel ihm schwer. »Bleib bei mir, Hänsel. Geh jetzt nicht weg.«
    »Warum sollte ich weggehen?«, fragte Hänsel.
    »Du bist wegen mir von deinen Eltern weggerannt«, sagte der alte Mann. Hänsel hatte keine Ahnung, wovon er redete. »Ich bin weggerannt, weil mein Vater mir den Kopf abgeschlagen hat«, sagte er. »Woher weißt du, dass ich weggerannt bin?«
    »Wer hat deinem Vater gesagt, dass er deinen Kopf abschlagen soll?« Die Stimme des alten Mannes war schwach.
    »Eine Statu… «, begann Hänsel. Dann hielt er inne. Er sah in das alte, runzelige Gesicht des Mannes. Dann, einen Moment später, sagte er: »Du warst es.«
    »Ich war es«, sagte der treue Johannes. Er versuchte, sich aufzusetzen, aber sein Gesicht verzog sich vor Schmerz und er gab auf. »Ich habe dich und deine Schwester all die Jahre gesucht. Und jetzt habe ich dich endlich gefunden und sterbe.«
    Der alte Mann und der Junge saßen auf einem kleinen Fleckchen Gras am Straßenrand. Wolken zogen vorbei, die Sonne ging langsam im Westen unter und die Grillen begannen zu singen.
    Und dann stellte Hänsel die Frage, um die sich sein erster Gedanke drehte, wenn er aufwachte, und sein letzter, wenn er einschlief: »Erzähl mir von meinen Eltern.«
    Johannes lächelte traurig. »Sie haben sich selber für das verflucht, was sie euch beiden angetan haben, Hänsel. Sie waren dumm, sehr dumm.«
    Er hustete ärgerlich. »Sie erkennen jetzt, dass sie dumm waren. Und ich weiß das auch. Es ist wichtig, jemandem treu zu sein. Es ist wichtig, sich in andere hineinzuversetzen. Aber nichts ist so wertvoll wie deine Kinder. Nichts.«
    Der Gesang der Grillen lag in der Luft. Am Himmel zog ein Schwarm Schwalben vorbei, ihre kleinen, braunen Körper wurden von dem rosafarbenen Himmel umrahmt. Hänsel dachte an die sieben Brüder.
    »Ich will nicht nach Hause gehen«, sagte er. »Bitte zwing mich nicht dazu.« Er fühlte sich plötzlich wieder wie ein kleines Kind.
    »Das verstehe ich«, sagte Johannes.
    »Nein, das tust du nicht.«
    Johannes seufzte. »Hänsel, das tue ich.« Und dann erzählte er dem Jungen eine Geschichte. Sie begann mit einem sterbenden König, einem jungen Prinzen und einer schönen Prinzessin, die irgendwo auf der anderen Seite des Ozeans lebte. Der Prinz wurde König und schaffte es, dass die schöne Prinzessin seine Frau wurde (Johannes ließ den Teil mit dem Raub der Prinzessin aus, denn er hatte kaum mehr Kraft und außerdem war ihm dieser Teil ziemlich peinlich). Dann erzählte er von den drei Raben und den drei Prophezeiungen. Und von einem treuen Diener, der sein Leben für den König riskierte.
    »Ich liebte den jungen König und seine Braut«, sagte Johannes. »Und ich dachte, sie würden vielleicht auch mir die Treue halten. Ich dachte, sie würden verstehen.« Und er erzählte von dem haselnussbraunen Hengst und dem goldenen Brautkleid und dem Hochzeitstanz. Und dann berichtete er, wie er die neue Königin in sein Gemach gebracht hatte und was er dort mit ihr gemacht hatte. Und er erzählte vom Scheiterhaufen und von allem, was danach geschehen war. Hänsel starrte auf das Gras und sah den Schatten beim Wachsen zu und betrachtete den Himmel, wie er hellblau, orange und dann rosa wurde. Heuschrecken brummten.
    »Wirst du ihnen jemals vergeben können?«, fragte Hänsel sanft. »Ich habe etwas Besseres gemacht, als ihnen zu vergeben«, sagte Johannes. »Ich stand ihnen bei. Ich nahm ihre Bürde auf mich – ihre Fehler und ihren Schmerz. Ichverstand sie. Doch erst im letzten Moment, bevor ich zu Stein wurde, verstanden deine Eltern, was ich für sie

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