Eine dunkle & grimmige Geschichte
Richtung. Gretel nickte schweigend und ging zur Tür des Gasthauses hinaus auf die Straße. Sie blickte in die Richtung, in die die beiden gezeigt hatten.
Selbst die Straße sah unwirtlich aus.
Sie blickte in die entgegengesetzte Richtung.
Hänsel wanderte die nasse, eisige Straße entlang, ein einsamer, kleiner Junge mit pechschwarzen Augen und gelockten Haaren, in denen sich mehr und mehr Schneeflocken verfingen. Hinter ihm zogen zwei gehorsame Ochsen zwei riesige Karren.
Der erste Wagen war gefüllt mit tausend goldenen Äpfeln – rund, saftig und kalt. Es waren Äpfel aus echtem Gold, keine Golden Delicious. Pures, echtes Gold. Der zweite Wagen war ganz und gar mit Wein gefüllt. Die Fässer waren so hoch gestapelt, dass sie bei jeder Biegung der Straße wackelten und knarrten. In den Fässern war so viel Wein, dass ein ganzes Dorf für ein Jahr genug zu trinken gehabt hätte.
Die Äpfel, der Wein und die Karren mit den Ochsen waren Geschenke der Stadtbewohner. Denn nachdem Hänsel Johannes begraben und einen kleinen Grabstein mit der Aufschrift »Treu« für ihn gemacht hatte, war er zu der Stadt mit dem verdorrten Baum zurückgegangen. Er hatte den Menschen dort erzählt, dass eine Maus dieWurzeln des Baumes anknabberte. Sie töteten sie, und sofort begannen wieder Äpfel zu wachsen. Die Bewohner der Stadt schenkten Hänsel tausend goldene Äpfel, einen Karren und einen unglaublich großen, gehorsamen Ochsen. Als Nächstes war er zu der Stadt mit dem trockenen Brunnen gegangen und hatte den Bewohnern von dem Frosch erzählt, der ihre Weinquelle verstopfte. Sobald sie ihn getötet hatten, begann der Wein wieder zu fließen, und sie schenkten Hänsel Weinfässer und einen gehorsamen, sanften, riesengroßen Ochsen.
Er nannte die Ochsen Ivy und Betty – seltsame Namen für Ochsen, denn Ochsen sind logischerweise männlich.
Das hat eigentlich nichts mit der Geschichte zu tun. Aber ich dachte, ich erwähne das trotzdem.
Nachdem Hänsel den Teufel ausgetrickst und zwei Städte gerettet hatte, machte er sich beladen mit seinen Reichtümern auf den Weg in das Königreich Grimm. Es war nicht schwierig hinzufinden. Jeder kannte den Weg in das Königreich mit dem Drachen.
Aber Hänsel kam nur langsam voran. Denn er hielt in jeder Ortschaft und jedem Weiler, jedem Haus und jeder Hütte, um zu fragen, ob jemand seine Schwester gesehen hatte. Aber keiner hatte von ihr gehört.
»Meinst du Gretel, die alte Frau?«
»Nein, meine Schwester.«
»Gretel, das Kind meiner Schwester?«
»Nein, meine Schwester. Sie ist kein Baby.«
»Ich habe eine Ziege, die Gretel heißt.«
»Nein!«
Er hatte zwar ein Vermögen an Gold und Wein und zwei folgsame Ochsen, aber Hänsels Herz war düster, und er zog seine Füße durch Schlamm und Eis schwer hinter sich her. Ohne seine Schwester wollte er nicht nach Hause gehen. Ohne seine Schwester wollte er keinem Drachen gegenübertreten. Ohne sie wollte er erst recht nicht seinen Eltern gegenübertreten.
Gretel stand an der Tür des Gasthauses und blickte auf die Straße. Zwei riesige Ochsenkarren rollten auf sie zu. Sie sahen aus wie zwei kleine Berge aus Schnee. Vor ihnen ging jemand mit dunklen Haaren – eine kleine, niedergeschlagene Gestalt, die durch den Schnee schlurfte. Irgendetwas an diesem Anblick brachte Gretel dazu, stehen zu bleiben.
Als die Ochsenkarren näher kamen, blieb ihr fast das Herz stehen. Mit ihren ozeanblauen Augen konnte sie nun das Gesicht der Gestalt erkennen.
Sie schrie laut auf und rannte auf Hänsel zu.
Als Hänsel dem Königreich Grimm immer näher kam, bildete er sich ein, Gretel überall zu sehen. In Bäckereien. Hinter Fenstern. In Toiletten (was zu einigen peinlichen Situationen führte). Und jetzt gerade stand ein Mädchen an der Tür eines Gasthauses. Wenn er sich nicht schon viel zu oft Dinge eingebildet hätte, dann hätte er schwören können, dass es Gretel sei.
Plötzlich stand das Mädchen nicht mehr an der Tür, sondern rannte auf ihn zu. Ihr langes, blondes Haar flatterte hinter ihr her. Hänsel blinzelte. Dann hörte er auf, durch den Schnee zu schlurfen, und begann zu rennen.
Hänsel und Gretel prallten zusammen wie zwei Magnete, wie zwei Meteore, die durch das Weltall fliegen, nur um endlich zu kollidieren. Sie trafen sich in der Mitte des Weges und rutschten aus. Sie landeten zusammen in einer riesigen Pfütze aus eiskaltem Schlamm.
Sie sahen sich ungläubig an.
Verloren und wiedergefunden.
Tot und wieder
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