Eine dunkle & grimmige Geschichte
wichtig gefühlt. Dabei waren sie doch nur Kinder.
Die Nachricht von ihrer Ankunft eilte ihnen weit voraus. Schon bald erreichte sie den König und die Königin im Schloss.
Am Anfang glaubten es weder der König noch die Königin. Es hatte schon früher Gerüchte über die Rückkehr der Kinder gegeben. Keines hatte sich bewahrheitet. Aber als die Berichte wieder und wieder bestätigt wurden, konntender König und die Königin nicht länger warten. Sie rannten mit klopfenden Herzen zum Tor.
Als Hänsel und Gretel das Schloss mit seinen Türmen und Säulen sahen, packte Gretel ihren Bruder am Arm. Sie krallte sich so fest an ihn, dass es wehtat. Er sah sie an. Ihr Gesicht war voller Sorge. »Denkst du ...« Sie zögerte. Dann fing sie wieder an zu reden. »Sie werden das, was sie getan haben, nicht noch einmal tun?«
Langsam schüttelte Hänsel den Kopf. »Nein«, sagte er. Und er wiederholte, was der treue Johannes gesagt hatte. »Sie vermissen uns. Und es tut ihnen sehr leid.«
Gretel nickte. Hänsel ergriff ihre Hand und ließ sie nicht mehr los.
Als die Ochsenwagen nur noch hundert Meter von der Pforte des Schlosses entfernt waren, versteckten sich Hänsel und Gretel in dem Karren. Ihre Mutter und ihr Vater rannten mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Hänsel und Gretel sahen sie kommen. Sie streckten ihnen die Arme nicht entgegen, aber sie ließen sich hochheben und im Arm halten.
»Es tut mir so leid«, war das Erste, was ihr Vater sagte.
»Es tut mir so leid«, war das Erste, was ihre Mutter sagte.
Und sie küssten ihre Kinder auf die Wangen, benetzten sie mit ihren Tränen und nahmen sie in die Arme. Sie sagten den Dienern, dass sie sich um die Ochsen kümmern und die Karren in die königlichen Ställe bringen sollten. Dann gingen sie mit Hänsel und Gretel ins Schloss, wo sie sie wuschen und ihnen zu essen gaben.
Zuletzt saß sie ganze Familie vor einem flackernden Kamin im privaten Teil des Schlosses. Die Schatten der Flammen tanzten auf ihren Gesichtern. »Erzählt uns alles«, sagte die Königin mit strahlendem Gesicht. »Wo wart ihr? Was habt ihr gemacht? Wie seid ihr nach Hause gekommen?«
Hänsel und Gretel sahen ihre Eltern an und dann sahen sie sich gegenseitig an. Sie zuckten mit den Achseln. Dann betrachteten sie den dicken, roten Teppich auf dem Boden.
Irgendwann in deinem Leben, lieber Leser, wird das auch dir passieren. Du wirst einen ähnlichen Moment erleben wie Hänsel und Gretel jetzt.
In diesem Moment wirst du deine Eltern ansehen und erkennen, dass sie dich – egal, was sie tatsächlich gerade sagen – um Verzeihung bitten. Dieser Moment ist sehr schmerzhaft. Von dem Augenblick an, von dem du sprechen konntest, hast du dich bei deinen Eltern entschuldigt – weil du dieses zerbrochen, jenes vergessen, ihn geschubst, sie in die Garage gesperrt hast und so weiter.
Dass deine Eltern nun also plötzlich dich um Verzeihung bitten, klingt auf den ersten Blick ziemlich gut.
Aber wenn dieser Moment dann tatsächlich kommt, dann wird er dir wahrscheinlich sehr wehtun. Und es kann gut sein, dass du ihnen nicht verzeihen willst.
Und was, wirst du jetzt vielleicht fragen, sollst du dann tun?
Nun, du könntest sie anschreien und ihnen sagen, wie sehr sie dich verletzt haben. Es ist gut, das zumindest einmal zu machen, denn – glaub mir – sie sollten Bescheid wissen. Aber das ist nur der erste Schritt auf dem Weg der Verzeihung. Doch was, wenn du dazu noch nicht bereit bist?
Du kannst so tun, als würdest du ihnen vergeben. Das würde ich dir aber nicht empfehlen. Es ist so, als wenn man zerbrochenes Glas unter den Teppich kehrt. Der Boden ist immer noch nicht sauber und jemand wird sich früher oder später einen blutigen Socken holen.
Falls du ihnen nicht vergeben kannst, aber auch nicht lügen willst, dann kannst du immer noch zu einer altbewährten Methode greifen: Du kannst das Thema wechseln.
Nach einem Moment sagte Hänsel: »Was ist mit dem Drachen?«
Und Gretel sagte: »Ja, erzählt uns von dem Drachen.«
König und Königin tauschten einen ängstlichen Blick aus. Ihre Kinder – sie waren immer noch Kinder, oder nicht? – schienen sich so sehr von den Kleinen zu unterscheiden, die am Fußende ihres Bettes gespielt hatten, bevor sie weggelaufen waren. Sie waren ernsthaft, ruhig und distanziert. Aber König und Königin tauschten einen für Eltern typischen Blick aus und beschlossen, ihnen Raum und Zeit zu geben. Und so erzählten sie den beiden alles über den
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