Eine dunkle & grimmige Geschichte
er vondem Inhalt der Ochsenkarren abgelenkt war. Dann, wenn er es am wenigsten erwartete, würden sie hervorkommen und ihn angreifen.
»Es ist vollkommen natürlich, dass ihr euch fürchtet«, sagte Gretel. »Der Drache ist groß. Der Drache ist stark. Der Drache hat unsere Familien auseinandergerissen, unsere Kinder gestohlen und unsere Kindheit geraubt. Aber deshalb müsst ihr euch nicht verstecken. Denn solange wir uns ihm nicht stellen, werden unsere Herzen nicht zusammenfinden und unser Kopf wird von unserem Körper getrennt sein.«
Der Mond stand weiß und hell hinter Gretel. Hänsel starrte sie an. Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.
»Aber schon bald werden wir geheilt sein«, fuhr sie fort. »Zuerst wird Blut fließen. Aber dann Freudentränen.« Sie machte eine Pause. »Für unser Königreich!«, rief sie.
»Und für unsere Familien!«, brüllte Hänsel.
»Und für unsere Kinder!«, riefen beide zusammen.
Die Soldaten wiederholten ihren Ruf. In der darauffolgenden Stille konnten alle das Echo des Wortes »Kinder« hören, es schallte durch die dichten Bäume und durch den ganzen Wald.
Gretel lenkte die Ochsenkarren in die Mitte der Lichtung. Im Mondlicht glänzten die Äpfel so golden, als ob sie magisch seien. Hänsel band Ivy und Betty los und versuchte, sie wegzuscheuchen. Aber die beiden Ochsen fingen an, das Gras auf der Wiese zu rupfen. Ein Soldat nahm sie beim Halfter und führte sie in den Wald, so weit fort wie möglich vom Schlachtfeld.
Macht euch keine Sorgen. Ivy und Betty passiert nichts. (Ich wünschte, das könnte ich auch von allen anderen behaupten.)
Die Kinder ließen die beiden Wagen in der Lichtung stehen und versteckten sich zwischen den Bäumen.
Der Wald machte Geräusche. Äste knackten, Blätter knisterten, Fledermäuse flatterten zwischen den Bäumen und hielten nach Beute Ausschau. Hänsel rupfte das Gras zu seinen Füßen aus. Gretel spielte mit einem Dolch, den sie an ihrem Gürtel befestigt hatte. Die Soldaten begannen sich unruhig hin und her zu bewegen. Niemand geht freiwillig bei Nacht in einen Wald. Besonders nicht, wenn irgendwo ein Drache herumfliegt. Schwertgriffe lagen in schweißnassen Händen, Bögen wurden gespannt und wieder losgelassen, gespannt und wieder losgelassen. Eulen schrien. Von Weitem konnte man ihre großen Schwingen durch die Luft gleiten hören.
Nein.
Das waren nicht die Schwingen einer Eule. Die Abstände der Schläge waren viel zu groß. Zu dumpf und zu weit weg. Hänsel und Gretel sahen aus dem Schutz der Äste und Blätter hervor, aber sie konnten gegen den schwarzen, wolkenverhangenen Himmel nichts erkennen.
Und dann war er da. Vor dem Mond. Die riesige Silhouette des Drachen, seine Schwingen ruhten auf der Nachtluft.
Sein Körper war schlank, seine vier Beine hatte er angezogen, sein langer Schwanz schlängelte sich hinter ihm. Seine Flügel waren so dünn, dass das Mondlicht durch sie hindurchschien. Wer ihn noch nie gesehen hatte, rang nach Luft. Er war widerwärtig. Er war riesig. Von unten konnte man die Umrisse seines Kopfes erkennen, er war breit und schlangenähnlich. Er sah überhaupt nicht aus wie die Drachen in alten Märchenbüchern.
Nicht einmal so, wie der Drache auf dem Umschlag dieses Buches. Schau ruhig nach.
Der Drache auf diesem Buch wurde gezeichnet, um dich darauf vorzubereiten, dass dir zwischen diesen Seiten so ein Untier begegnen wird.
Er wurde nicht gezeichnet, um dich vor Angst und Furcht ganz krank zu machen. Der schlangenähnliche Kopf, die pupillenlosen Augen, die durchscheinenden Flügel – das wurde alles weggelassen.
Gern geschehen – du brauchst dich dafür nicht zu bedanken.
Gretel machte ein Zeichen. Speere wurden gen Himmel gehoben und Bögen gespannt.
Der Drache verschwand wieder aus dem Sichtfeld. Alle warteten. Dann erschien er über der Lichtung – dieses Mal ein wenig tiefer. Er hatte das Gold gesehen und begann zu kreisen. Gretel konnte den Atem ihres Bruders hören, er war gleichmäßig und schnell. Hänsel konnte den Herzschlag seiner Schwester hören, es schlug im Takt mit seinem Herzen.
Der Drache flog wieder über ihnen, dieses Mal noch tiefer. Dann war er wieder weg. Jedes Mal, wenn er erneut auftauchte, flog er ein wenig tiefer.
Gretel zeigte in den Himmel. Wieder wurden Pfeile auf den Drachen gerichtet. Sie warteten. Der Drache kreiste über ihnen. Er war nahe genug, dass sie seine Haut im Mondlicht schimmern sehen und seine riesigen, gezackten Krallen erkennen konnten.
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