Eine Ehe in Briefen
von Dir auch noch so schwer, aus dieser Lage der erniedrigenden Verdächtigungen, der Qual und des Herzzerreißenden befreien werde, um zumindest am Ende meines Lebens das zu tun, was ich für richtig halte. Und ich habe beschlossen, Dich zu verlassen, doch als ich an Dich dachte – nicht daran, wie schmerzlich es für mich sein werde, ohne Dich zu sein, sondern daran, wie sehr es Dich verletzen, quälen würde, wie sehr Du leiden würdest –, begriff ich, daß ich es nicht kann, daß ich nicht fortgehen kann, ohne daß Du damit einverstanden bist.
[...]
Was tun? Entscheide selbst. Überdenke die Lage und entscheide, was zu tun ist. Ich für meinen Teil sehe folgende Auswege aus der Situation: 1. und bestens scheint mir zu sein, jegliche Beziehungen zu Tanejew abzubrechen, und zwar nicht langsam, mit Rücksicht darauf, wie es wirken könnte, sondern derart, daß wir uns sofort und ganz von diesem schrecklichen Alptraum befreien, der uns schon ein ganzes Jahr aufzehrt. Der zweite Ausweg wäre, daß ich ins Ausland reise, nachdem ich mich von Dir getrennt habe, damit wir unser Leben unabhängig voneinander führen können. [...]
Drittens wäre es möglich, daß wir, nachdem jeglicher Kontakt zu T[anejew] abgebrochen wurde, gemeinsam ins Ausland reisen und dort leben, bis das, was der Grund für all dies ist, vorübergegangen ist.
Das Vierte ist kein Ausweg, sondern die schrecklichste Vorstellung, an die ich ohne Entsetzen und Erbitterung nicht zu denken vermag, und zwar, sich einzureden, daß alles vorübergeht und darin nichts Schlimmes sei und so weiterzuleben wie im vergangenen Jahr: nämlich dergestalt, daß Du, der dies gar nicht bewußt ist, jede Möglichkeit suchst, Tanejew nahe zusein, und ich dies beobachte und mich dabei quäle – nicht aus Eifersucht – vielleicht ist auch sie beteiligt, aber sie ist nicht das wichtigste. Das wichtigste ist, ich sagte es Dir bereits, die Schande – Deine ebenso wie die meine. [...]
Sonja, mein Herz, Du bist eine gute, anständige und gerecht urteilende Frau. Versetze Dich in meine Lage und begreife, daß man nichts anderes empfinden kann als ich es tue, d.h. peinigenden Schmerz und quälende Scham, und finde, mein Herz, einen Weg, nicht nur mich, sondern vor allem auch Dich von diesen schrecklichen Qualen zu erlösen, welche auf diese oder jene Art unvermeidlich sein werden, solltest Du nicht Deine Ansicht diesbezüglich ändern und jegliche Anstrengung dafür unternehmen. [...] Ich fahre nach Pirogowo, um Dir und mir die Möglichkeit zu geben, dies alles gut zu überdenken und nicht in Zorn oder in die Gefahr einer unaufrichtigen Versöhnung zu geraten.
Überdenke alles mit Gott und schreibe mir. Ich werde auf jeden Fall bald nach Moskau kommen, und wir müssen versuchen, all dies in Ruhe zu besprechen. [...] Tatsächlich gäbe es noch zwei weitere Auswege, und zwar meinen oder Deinen Tod, doch beide sind sie furchtbar, sollten sie sich ereignen, bevor wir unsere Sünden gebüßt haben.
Ich fahre nach Pirogowo, auch, weil ich mich, nachdem ich 5 Nächte nicht geschlafen habe, derart schwach an meinen Nerven fühle, daß ich zu weinen beginne, kaum daß ich einmal nicht an mich halte. Ich fürchte, daß ich das Zusammentreffen mit Dir und alles, was aus ihm resultieren mag, nicht werde ertragen können. [...] 150
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[8. Juli 1897]
[Jasnaja Poljana]
Liebe Sonja,
seit langem schon quält mich der Widerspruch zwischen meinem Leben und meinem Glauben. Ich habe Euch nicht zwingen können, Euer Leben und Eure Gewohnheiten, die ich selbst Euch lehrte, zu ändern, zugleich habe ich Euch bisher auch nicht verlassen können, weil ich dachte, ich würde den Kindern, solange sie noch klein sind, meinen wenngleich geringen Einfluß entziehen und Euch verletzen. So weiterzuleben wie ich es in den letzten sechzehn Jahren tat, bald kämpfend und Euch reizend, bald selbst den Versuchungen erliegend, an die ich mich gewöhnt habe und inmitten derer ich lebe, vermag ich indes auch nicht mehr, und deshalb habe ich beschlossen, das zu tun, was ich schon lange tun wollte – fortzugehen. [...]
Wie die Hindus, wenn sie das sechzigste Jahr erreicht haben, sich in den Wald zurückziehen, wie jeder alte und religiöse Mann die letzten Jahre seines Lebens Gott weihen möchte und nicht Späßen, Wortspielen, Klatsch und Tratsch, Tennis – so sehne auch ich, der ich bald das siebzigste Lebensjahr erreiche, mich von ganzem Herzen
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