Eine Ehe in Briefen
vielleicht nicht mehr viel Zeit im Leben und daher sei Dir diese und Deine Muße so wichtig; die ganze Welt, die ganze Menschheit, der Du mit Deiner Schriftstellerei dienst, werden finden, daß Du damit vollkommen recht hast. Ich aber, als Individuum, als Deine Gattin, muß mich sehr anstrengen, um anzuerkennen, daß die Tatsache, ob ein besser oder schlechter geschriebener Aufsatz, ein Aufsatz mehr oder weniger, wichtiger ist als mein eigenes Leben, meine Liebe zu Dir, mein Wunsch mit Dir zusammen zu sein und darin und nicht in allem anderen das Glück zu sehen.
Dies schreibe ich Dir als Erläuterung, nicht als Vorwurf. Ich habe mich daran gewöhnt, auch ohne Dich zu leben und keine Sehnsucht nach Dir zu empfinden. Mir scheint gar, daß wir seelisch einander näher sind, wenn wir äußerlich getrennt sind; und wenn wir äußerlich wieder zusammenkommen uns seelisch erneut voneinander entfernen. – Dein Argument, es bleibe Dir womöglich nicht mehr viel Zeit im Leben, könnte ich auch um meiner selbst willen anführen – nämlich, daß es gerade deshalb notwendig ist, in der letzten Zeit, die einem bleibt, zusammen zu sein. Doch gerade in letzter Zeit, besonders nach der Lektüre der Biographie Beethovens, wurde mir zunehmend klar, daß Menschen, die der Menschheit dienen und dafür das größte Geschenk erhalten, nämlich Ruhm, dieser Verführung nicht mehr entsagen können und alles preisgeben, was diesem Ruhm im Wege steht und ihren Dienst an der Menschheit stört. Beethoven hatte glücklicherweise keine Familie – und daher hatte er das Recht, derart zu handeln. [...]
Ich lebe achtsam gegen mich selbst und andere. Seit der Minute unseres Abschieds empfand ich nicht Zorn noch Verdruß gegen irgend jemanden und habe mich auch keineswegs erbost, da Du nicht nach Moskau zu kommen gedenkst. Bleibe, solangees Dir notwendig und angenehm dort ist; hier würde Dich alles verdrießen, und dies ist schlimmer als die Trennung.
So spiele ich auch wieder sehr viel Klavier, bisweilen bis zu 5 Stunden; zu Bett gehe ich jeden Tag erst gegen drei Uhr. [...] Heute habe ich mir die Karten gelegt, und zweimal zeigte sich der Tod. Wir werden sehen!
Solange ich aber am Leben bin, küsse ich Dich und denke oft an Dich und fühle, wie Deine Tage, Gedanken, Interessen an mir vorübergehen und in Aufsätze, Erzählungen, in die Briefe an Tschertkow nach England usw. fließen. Einstmals entstand das, was Du geschrieben hast, gemeinsam mit mir, allerorten konnte ich auch mich spüren. – Deine Vorräte sind vermutlich bereits aufgebraucht, und Du hast weder Feigen noch Zwieback – nichts. Soll ich Dir etwas schicken? Lebe wohl.
S.T.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[26. November 1897]
[Jasnaja Poljana]
Gestern kam Tanja, blieb einen Tag und hinterließ den mich beglückenden Eindruck, daß sie sich von ihrer Besessenheit befreit hat 155 . [...] Deine Ausführungen darüber, es sei wichtiger in Moskau bei Dir zu sein als die Tatsache, daß dieses oder jenes besser oder schlechter geschrieben werde, sind außergewöhnlich in ihrer Ungerechtigkeit. Denn 1. ist die Frage überhaupt nicht, was denn wichtiger ist, 2. bin ich nicht allein deshalb hier, damit irgendein Werk besser geschrieben wird, und 3. stört meine Anwesenheit in Moskau, und dies weißt Du sehr gut, Andr[juscha] und Mischa keineswegs, sich schlecht zu betragen. Kein Vater der Welt kann seinen Söhnen, denen bereits Bärte wachsen, verbieten, auf die Weise zu leben, welche sie für die richtige halten; und sollte es 4. tatsächlich die Frage sein, was wichtiger ist: zu schreiben, was ich schreibe und was,wie ich hoffe, von Millionen gelesen werden und auf Millionen einen guten Einfluß haben wird (andernfalls schriebe ich es nicht), oder in Moskau zu leben, ohne jegliche Beschäftigung dort, in Betriebsamkeit, Anspannung und abträglichen Umständen, dann wird wohl ein jeder gegen ein Leben in Moskau entscheiden.
Das bedeutet nicht, daß ich nicht nach Moskau zu kommen wünsche, daß ich nicht alles täte, was ich kann, um Dein Leben für Dich schöner zu machen, oder daß ich nicht mit Dir zusammen sein möchte, im Gegenteil, ich möchte dies sehr, doch dies bedeutet, daß Deine Ausführungen hierzu überaus ungerecht sind ebenso wie jene Schlußfolgerung, die Du aus der Lektüre der Biogr[aphie] Beeth[ovens] ziehst, nämlich, Ziel meiner Tätigkeit sei es, Ruhm zu erlangen. – Ruhm zu erlangen kann das Ziel eines jungen Mannes oder eines
Weitere Kostenlose Bücher