Eine Ehe in Briefen
das Leben im »verruchten Babylon« eine Qual. Erschüttert von der sozialen und sittlichen Verelendung der proletarisierten Massen flieht Tolstoj vor den Eindrücken der Stadt nach Jasnaja Poljana, wo er in der ländlichen Ruhe, fernab vom sündigen Babylon und von der Familie seine Antwort auf die Fragen der Armut und sozialen Ungleichheit zu finden sucht. Er beginnt die Arbeit an Was sollen wir denn tun? (1884).
1879
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[14. Juni 1879]
[Kiew]
Heute, am 14., kam ich um 8 Uhr des Morgens sehr müde in Kiew an. Bis um 3 besichtigte ich die Kirchen, Höhlenklöster und suchte die Mönche auf und bin mit dieser Reise sehr unzufrieden.Sie hat sich nicht gelohnt. [...] Um 7 ging ich wieder ins Kloster, zum Asketen Antoni 1 , und hörte von ihm wenig Lehrreiches. Was nur wird Gott mir morgen schicken?
Übermorgen werde ich wohl abreisen, so Gott mir Gesundheit gibt.
Von Dir habe ich keinen Brief. Das ist traurig. Ich küsse Dich und die Kinder.
L.T.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[27. September 1879]
Ich kann beim Gedanken an Dich nicht ruhig sein, liebste Freundin. Die Erinnerung an das Ungerechte und Unschöne, welches ich Dir sagte, bedrückt mich. Bitte vergiß nicht, mein Herz, daß Du mir das Teuerste auf der Welt bist. Denke an meine Bitte und quäle Dich nicht allzu sehr 2 . Versuche, am Tage etwas zu schlafen. Gehe aber auf jeden Fall früher zu Bett. Und gib den Kindern keinen Unterricht, sollte es Dir nur etwas beschwerlich sein. Und schicke mir morgen ein Telegramm. Wie geht es Dir? [...]
Du kannst nicht ermessen, wie dankbar ich Dir sein werde, wenn Du Dich während dieser 3 Tage schonen wirst. Denke immer daran, daß Du dies meinetwegen tust.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[28. September 1879]
[Moskau]
Wir sind sehr gut angekommen, obwohl die Fahrt sich in die Länge zog, vor allem für Tanja 3 . Bei Lisanka 4 sind alle wohlbehalten, und unser Aufenthalt bei ihnen macht ihnen keine Umstände. Auch ich komme hier unter, was mich sehr freut. [...] Meine Gesundheit ist nicht schlechter.
War gestern abend bei Sacharin, traf ihn aber nicht an. Heute gehe ich um 12 in die Klinik. Ich habe einen Wagen bestellt, und Tanja geht mit Lisa oder jemand anderem Einkäufe machen, dann treffen wir uns und fahren zum Zahnarzt.
Es ist ärgerlich, daß alles hier, die Archive, das Museum, das Bistum, der Sitz des Metropoliten und Sacharin, nur von 12 bis 3 geöffnet hat, so daß man an einem Tag nur wenig schafft.
Lisa sagte gestern, sie wolle das Dreifaltigkeitskloster 5 besuchen. Das wäre wunderbar. Jeden Tag werden wir Dir schreiben. Und wir werden den Dentisten aufsuchen, den Sacharin empfiehlt. Lebe wohl, mein Herz, ich küsse Dich fest und liebe Dich sehr.
Dein L.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[30. September 1879]
[Moskau]
Ich habe sehr, sehr viel erledigt, und das ist gut, doch es bleibt noch viel zu tun, und deshalb sei bitte nicht verärgert, mein Herz, daß wir unsere Abreise auf Dienstag 6 verschieben. Sacharin hat mich beruhigt, Medikamente verschrieben, die ich mir geholt habe und sogar einnehme. Ich bin nervlich sehr abgespannt. Wünschte mir so sehr, bei Dir und den Kindern zu sein und meinen Bauernkittel wieder anzuziehen, doch mein Aufenthalt hier ist nicht ohne Nutzen. Es ist furchtbar, daß es Dir nicht gut geht; ich fürchte sehr, daß es sich wiederholen könnte. Ich umarme Dich, meine Liebste, und die Kinder.
1880
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[28. August 1880]
[Moskau]
Gestern war ich bei Meyer 7 und gab ein Gesuch nach Hauslehrern und Gouvernanten auf. Heute morgen erschienen zwei: M-lle Velti, sehr gutes Französisch und Musik; 600 R[ubel]; überaus gute Manieren, war ein Jahr bei Sacharin, [...] sie ist 25. Die zweite, M-lle Bossoney, ist jene, welche Dir bereits schrieb: Franz. und Englisch; alt, vertrocknet, sehr rechtschaffen. Ihr Franz. ist schlechter als das der ersteren, aber sie ist sehr würdevoll, zu sehr sogar. [...] Im Kontor hat man versprochen, Lehrer für uns zu finden, doch bisher ist niemand erschienen. Jetzt ist es schon fast 2, und ich mache mich auf zu den Universitäten und Gymnasien. [...]
Meine Gesundheit ist gut. Ich küsse Dich und die Kinder.
L.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
[28. August 1880]
[Jasnaja Poljana]
Lieber Ljowotschka, [...] heute haben wir
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