Eine Ehe in Briefen
ruhiger fühlenkönnte. Du, die zu Hause stets von Sorgen um die Familie geplagt bist, kannst den Unterschied gar nicht empfinden, der für mich zwischen Stadt und Land liegt. Doch will ich darüber im Brief nichts sagen, denn über dieses Thema schreibe ich jetzt, und Du wirst es, wenn mir die Arbeit gelingt, dort klarer lesen können 34 .
Das Hauptübel der Stadt ist für mich und für alle denkenden Menschen (darüber schreibe ich jetzt nicht) – daß man ständig gezwungen ist, zu disputieren, um falsche Ansichten zu widerlegen oder sich mit diesen, ohne zu streiten, einverstanden zu erklären, was noch schlimmer ist. Zu disputieren und falsche Ansichten zu widerlegen indes ist die müßigste Angelegenheit, die niemals ein Ende haben wird, denn falsche Ansichten gibt es in mannigfaltigster Zahl. Und wenn man sich damit beschäftigt, dann meint man, es sei die wichtigste Aufgabe, tatsächlich aber ist es größte Zeitverschwendung. – Wenn man hingegen nicht disputiert, so kann man selbst zu Einsichten finden, welche die Notwendigkeit des Disputs ausschließen. Und dies geschieht einem nur in Ruhe und Abgeschiedenheit. – Ich weiß, daß man auch Austausch mit Gleichgesinnten braucht, und die drei Monate in Moskau waren sehr wichtig für mich, sie haben mir sehr viel gegeben. [...] – Die Volkszählung 35 und Sjutajew haben mir vieles klargemacht.
So sei also meinetwegen ganz unbesorgt. Geschehen kann uns allerorten etwas, ich aber bin hier in der besten und gefahrlosesten Umgebung. Gebe Gott, daß auch bei Dir alles gut geht. Küsse die Kinder von mir. [...] Lebe wohl, mein Herz, ich weiß nichts mehr zu schreiben. [...] Die Njanja kocht mir Hühnersuppe, bringt den Kessel selbst hierher und steht neben mir wie beim Gottesdienst. Gestern gab es Kascha und Pökelfleisch. In Tula kaufte ich mir Weißwein und Kalatschen 36 . Heute wurden wieder frische gebracht. Es gibt frische Eier. Ich schlafe auf einer Holzbank mit Matratze, ohne Wanzen.
[...] Falls Briefe von Interesse kommen, lasse es mich wissen.Lebe wohl, Liebe, schreibe mir jeden Tag, auch ich werde jeden Tag schreiben.
T.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
[6. Februar 1882]. Des Nachts.
[Moskau]
Gerade sind wir von den Obolenskis zurückgekehrt, lieber Ljowotschka, den Kindern, so scheint es, hat es gefallen. [...] Es ist jetzt halb zwei, Gott sei es gedankt, alle haben sich zurückgezogen und sind zu Bett gegangen; alle sind wohlauf und nicht übermäßig beschwingt. [...]
Ich mußte den Brief unterbrechen: habe dem Kleinen die Brust gegeben, mich ausgekleidet, alles noch Liegengebliebene erledigt, und nun ist es schon bald drei Uhr, um diese Zeit lege ich mich gewöhnlich schlafen.
Gerade habe ich Deinen Brief, den ich heute erhielt, noch einmal gelesen. Erlabe Dich körperlich und bleibe in Jasnaja, solange Du möchtest, schreibe mir und genieße es dort. Wenn denn unser Leben unterschiedliche Wege beschritten hat, so müssen wir beide es für uns auf die beste Weise einrichten, was ich für uns, d.h. für die Kinder und mich auch versuche. Es ist mir noch immer sehr schwer und ungewohnt, doch der Mensch gewöhnt sich an alles. Warum das Leben in der Stadt Dispute hervorruft – das begreife ich allerdings nicht; wem macht es denn Spaß, andere zu überzeugen und Predigten zu halten? Dies zu tun ist unklug und unvernünftig, und daher sollte man es dem naiven Sjutajew überlassen.
[...]
Bleibe nur lange dort, ohne mich geht es Dir besser. Mein Kleiner ist immer noch krank. Doch Dich interessiert dies ja nicht. Die Kleinen gehören ausschließlich zu mir, und deshalb möchte ich keine weiteren mehr haben. Ganz vergebliche Leiden –und wenn das Leben schon getrennte Wege geht, so soll es auch ganz getrennt sein.
Ich möchte Dich an der empfindlichsten Stelle treffen, wenn Du nur wüßtest, wie ich jeden Abend weine, wenn ich nach einem Tag, an dem ich mich für das leibliche Leben, wie Du es nennst, aufgerieben habe, allein wiederfinde, mit all meinen Gedanken und Sehnsüchten. Meine einzige Freude ist es, wenn Andrjuscha etwas sagt wie heute: »Mamá, wer hat Dich lieb?« Ich antwortete: »Niemand hat mich lieb, Papá hat mich allein gelassen.« Und er erwiderte: »Ich habe Dich lieb, Mamá.« Wie nur kommt ihm so etwas in den Sinn? Ich kleidete ihn schweigend aus, er betrachtete mich aufmerksam, vermutlich sah ich leidend aus.
Ich wollte eigentlich nur Gegebenheiten berichten: war dort, tat dies ..., schlicht und
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