Eine Ehe in Briefen
jeder der Charaktere sein ureigenes Russisch spricht, denn gewöhnlich haben die Personen aus dem einfachen Volk auf dem Theater eine sehr gleichartige Sprache.« Dies hat er sehr richtig bemerkt. Heute bis zwei werde ich mit Vera Schidlowskaja Korrektur lesen. Dann bringe ich die Kinder zur Eisbahn und esse bei den Schidlowskis. Ilja, Ljowa und sein Freund Alcide waren auch bei der Lesung, Ilja verbringt bereits den zweiten Abend zu Hause. [...]
Die Druckfassung habe ich selbst behalten, die von mir abgeschriebene Version an Sissowa geschickt. Lebt wohl, ich küsse Euch. [...]
S.T.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
10. Januar [1887]
[Moskau]
[...] Ich erhielt heute einen Brief von Tanja 94 , in dem sie berichtet, daß das Drama bei Obolenskaja (Djakowa 95 ) gelesen wurde; bei Alexandrine wird auch eine Lesung stattfinden, dort werden die Großfürsten erwartet. Sie schreibt auch, daß allerorten von dem Stück gesprochen wird, alle seien begeistert davon. Heute erzählte ein Schüler des Poliwanow-Gymnasiums, Poliwanow habe vor der Klasse begeistert über das Drama gesprochen und gesagt, dies sei eines der wichtigsten Ereignisse in der russischen Literatur. Ich wußte dies ja bereits vom ersten Akt an, den ich so begeistert in Jasnaja Poljana abgeschrieben habe. Was die Zensur unternehmen wird, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich dessentwegen nach Petersburg werde reisen müssen. Dies ersehe ich auch aus dem Brief des unbekannten jungen Mannes, den ich beilege, dieser Brief istirgendwie seltsam und nicht eben beruhigend. Warum schreibt er: »Die Terroristen beginnen, Sie für einen der Ihren zu halten«? Es zeugt doch von absoluter Dummheit, wenn jemand nicht begreift, daß all das, was Du zu sagen hast, der terroristischen Bewegung ganz und gar entgegengesetzt ist und daß Du der größte Feind des Terrorismus bist. Was herrscht denn in Petersburg für eine Verwirrung, daß man derartiges von dort vernehmen muß?
Ich bin heute nicht ganz gesund und nicht bei Stimmung. [...] Die ganzen letzten Tage habe ich sehr viel zu tun. Die Korrekturen nehmen viel Zeit in Anspruch. Jeder, den ich zu fassen bekommen, liest: einmal Ilja, dann fahre ich damit zu den Schidlowskis, dann wieder all jene, die uns besuchen kommen. Auch die Werkausgabe macht viel Mühe 96 . Alle Fehler in den vorherigen Ausgaben müssen korrigiert werden. Dann habe ich noch meine Aufwartungen gemacht, viel geschneidert, Wäsche und Kleider geordnet – sehr viele Alltagsbeschäftigungen, die mich sehr ermüden. [...]
Mit der Engländerin ist es immer noch recht schwierig. [...] Was beschäftigt Dich? Und warum nennst Du das, was Du schreibst, eine Erzählung 97 ? Arbeite nur fleißig, Dein Ruhm ist mittlerweile aufs höchste gewachsen, und ich bin glücklich darüber. Ich hoffe, daß Du wohlauf bist und auf Dich achtgibst. Ich grüße alle, Tanja küsse ich und Dich auch. Ich schreibe Dir noch eine Postkarte. Lebe wohl.
S.T.
10. Januar 1887, am Abend.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
[11. April 1887]
[Moskau]
Endlich ist der heutige Tag, der voll war mit alltäglichen Beschäftigungen, vorbei! Ich bin schrecklich müde, und immernoch sitzen unten Stolypin, Vera Schidlowskaja, Serjosha, Tanja und Ljowa zusammen und spielen Whint. Gestern saß ich bis drei Uhr des Nachts an den Korrekturen. Ich stehe jeden Tag um 9 Uhr auf und schaffe es so, mit den Kindern Tee zu trinken. Am Vormittag war ich in Geschäften unterwegs und kaufte ein, dann kamen die Obolenski-Kinder, die der Swerbejews und die Nagornows zum Eierrollen 98 . Ich habe zwei sehr große Stehaufmännchen aufgestellt, und sie waren mit Feuereifer bei der Sache. [...]
Du schreibst, Du möchtest bei Chilkow 99 vorbeifahren – ich erzählte dies zufällig im Beisein von Mascha Swerbejewa. Sie sagte, sie habe gestern noch mit seiner Tante über ihn gesprochen und diese habe erzählt, Chilkow sei auf Wanderschaft, zu Fuß unterwegs, wie sie sich ausdrückte. Er habe seinen zu Ausschweifungen neigenden, ewig betrunkenen Vater zu sich genommen, dessen gesamte Familie daraufhin auf das mütterliche Gut übergesiedelt sei, und zwar genau dorthin, wo auch die Mutter lebe. Chilkow selbst lebt mit einer Bäuerin zusammen, die er seine Frau nennt; da er nämlich ein Kämpfer für die Freiheit des Geistes ist, erkennt er die christliche Ehe nicht an. Der Sohn ist vermutlich auch nicht viel besser. – Dies alles sind ziemlich traurige
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