Eine Ehe in Briefen
Gestalt derart mager, und es ist mir so weh, wenn ich ihn anblicke! Das ist wohl schon Schwäche und Zärtlichkeit des Alters gegen das Kleine und Hilflose.
Da ich vor Schmerzen weder mich bewegen noch arbeiten, noch irgend etwas mit der rechten Hand tun kann (auch das Schreiben ist schmerzhaft), sitze ich bewegungslos da und bin überaus unglücklich, denn ich sehe kein Ende meiner Schmerzen. All dies kam so plötzlich, unvermittelt, ohne jeglichen Grund. [...]
Heute beim Essen vollzog sich ein kleines Drama: Serjosha machte Andrjuscha leise darauf aufmerksam, daß er schmutzige Hände habe, Mascha schnappte dies auf, und dann stürzten sich alle auf ihn, so daß er sogar zu weinen begann, vom Tisch aufstand, gar nichts aß und lange noch weinte. [...] Ich mischte mich nicht ein, meine Nerven sind derart zerrüttet, daß ich selbst am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. [...] Gestern fragte mich Ljowa: »Mamá, sind Sie glücklich?« Ich war sehr erstaunt ob dieser Frage, wußte nicht sogleich, was antworten, und sagte dann: »Ja, ich glaube, ich kann mich glücklich schätzen.« Darauf wiederum fragte er: »Warum aber sehen Sie dann so gequält aus?« Ich erwiderte nichts, vermutlich scheint dies aufgrund aller meiner Sorgen, der Müdigkeit nach den durchwachten Nächten und der Schmerzen so. Ihm aber entgeht nichts, und er möchte, daß es allen wohl ergehen möge.
In unseren Briefen sind wir einander viel näher als im Leben. In den Briefen spricht man alles aus, was auch nur von geringstem Interesse sein kann, im Leben aber sehen wir uns so selten, die Dunklen 120 erringen zunehmend Macht über Dich, und es ist stets ein wenig peinlich, über alltägliche Kleinigkeiten zu sprechen, in einem Brief hingegen scheint selbst dies interessant.Nun denn also, lebe wohl, laß uns nicht allzu lange ohne Nachrichten von Dir. Ich küsse Dich.
S.
1. Mai.
1889
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
[24. März 1889]
[Moskau]
Ich habe mich sehr gefreut, von Dir und über Dich eine Nachricht zu erhalten, lieber Ljowotschka 121 . Ich bin überzeugt, daß es Dir beim Fürsten 122 sehr gut gehen wird [...]. Auch der Brief des Fürsten, der über Deine Ankunft derart glücklich zu sein scheint und so großen Anteil nimmt am Schicksal Maschas und Pawel Iwanowitschs, hat mich sehr angerührt 123 . Vielleicht wird sich ja alles zum Guten wenden, doch wir liebten und lieben uns auf andere Weise. [...]
Gestern abend saß ich mit Tanja, Ljowa und Lenotschka 124 sehr traulich beisammen, und wir sprachen über Maschas Heiratsabsichten. Alle verstehen dies nicht so recht, und wir alle kamen zu dem Schluß, daß wir ihre Gefühle vielleicht nicht ganz begreifen, aber daß auch irgend etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Lange schon haben wir uns nicht mehr so vertraut unterhalten, wir sind ja so selten allein. Um die Wahrheit zu sagen: Der einzige Vorteil Deiner Abwesenheit ist der, daß wir von der Last befreit sind, eine Großzahl von fremden und häufig auch unangenehmen Menschen zu empfangen, deren Gesellschaft langweilig und schrecklich falsch ist, was aber wiederum der Grund dafür ist, daß Du nun nicht hier bist. Gestern läuteten ein paar Dunkle, ich hieß, allen auszurichten, Du seiest bereits aufs Land abgereist und kämest nicht mehr zurück.
[...]
Die Kleinen schlafen, alle sind wohlauf, Wanetschka hustet ein wenig und Andrjuschas Hals ist etwas gerötet, doch all dies ist nicht schlimm.
Ich hoffe, Du wirst mir nicht allzu selten schreiben und bist nicht mehr verdrießlich gegen mich gestimmt, da ich immerfort besorgt um Dich bin und da es mir immer noch schwer, traurig und furchtbar ist, mich von Dir zu trennen. Ich küsse Dich und grüße Pawel Iwanowitsch [Birjukow], dem Fürsten schreibe ich eine gesonderte Antwort auf seinen liebenswürdigen Brief. Von Serjosha kam ein Brief, der ganz durchdrungen ist von den »Nibelungen« 125 .
S.T.
24. März, Abend.
1889.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[24. März 1889]
[Spasskoje]
Bisher ergeht es mir hier überaus gut. Gestern wanderte ich lange durch die nahegelegenen Ortschaften, schrieb nicht, las und unterhielt mich mit Urussow und mit Poscha 126 . [...] Das Leben hier auf den Dörfern ist, wie überall in Rußland, zum Weinen. Die Schule des Priesters hier besuchen 4 Knaben, während die Knaben des 1/2 Werst entfernten Nachbarorts, mehr als 30, des Lesens und Schreibens unkundig bleiben. Sie besuchen die
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