Eine Ehe in Briefen
und, nach allem,was man hört, nichtswürdigen Menschen, der in zehn Jahren der fetten Haushälterin den Vorzug geben wird vor seiner in Armut und Not darbenden, mageren, verwelkten und alt gewordenen, gescheiten Ehefrau. – Das ist es, was ich denke – ich kann nicht anders. Und all dies wird sich in Schlichtheit und Wohlgesinntheit vollziehen, denn ein deutscher Doktor mit einem Schmerbauch vollzieht alles, selbst den Betrug an seiner Gattin, überaus wohlgesinnt. – Ich habe großes, großes Mitleid mit Dir, liebster Freund. Ich glaube, daß Dir dies alles schmerzhafter ist als mir, denn mir ist es widerlich, und das ist einfacher, als in Güte zu leiden.
Wanetschka hast Du zu lieben begonnen, ich bin glücklich darum. Doch er ist ein so dünnhäutiges Kind, ich fürchte, er wird immer anfällig und schwach sein. Hoffentlich hat er Dich mit seiner kindlichen Schlichtheit und Liebe beruhigen können. – Mascha kann ich nicht schreiben, denn ich weiß einfach nicht, was ich ihr sagen soll. Es wäre immer dasselbe. Ich küsse Dich. Bald werden wir uns wiedersehen, allerdings nur, um uns dann wieder für eine noch längere Zeit zu trennen.
S. Tolstaja.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
[23. Oktober 1893]
[Moskau]
Jetzt habe ich Dir so lange schon nicht mehr geschrieben, lieber Ljowotschka, und auch von Euch habe ich seit Tagen keine Briefe mehr erhalten. Weder bei Euch noch bei uns hat sich irgend etwas ereignet, und den Alltag, dem ich immer wieder ausgeliefert bin, den eintönigen Lauf der Dinge kannst Du Dir so gut vorstellen, daß ich darüber nichts berichten möchte und muß. Natürlich gilt mein Augenmerk vor allem Ljowa und seinem Gesundheitszustand; gestern klagte er erneut, er habe Leibschmerzen, und auch heute morgen sagte er, er fühlesich schlecht. Das hat mich aber nicht allzusehr beunruhigt. Hier liegen alle mit der Herbstgrippe darnieder; Tanja hat es sehr schwer erwischt, sie ist trübsinniger und gedrückter Stimmung, bei Ljowa ist es nicht ganz so schlimm. [...]
Gerade hat Tanja Deinen Brief erhalten, und Wanetschka und Sascha haben Briefe von Mascha bekommen. Sie haben sich so gefreut; auf Wanetschkas Gesicht spiegelten sich die mannigfaltigsten Gefühle. Mit einem Kopfnicken hieß er es gut, daß Mamá Euch mit Weintrauben versorgt hat; darüber, daß Ihr vor den Mäusen keine Angst habt, lachte er und auch darüber, daß »sein Brief im Korb herumgetragen« werde 90 . Vor ein paar Tagen erblickte er in der Ecke neben dem Diwan zufällig die Büste von Dir. Du hättest seine Aufregung und Freude sehen sollen; er schlug die Hände zusammen, strich über den Kopf (welch Vorstellungskraft, er fühlte nicht einmal die Kälte des Metalls), dann ging er langsam um die Büste herum und küßte sie, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß wir alle ihm zusahen. Ein unvergleichlicher Knabe. [...] Wie geht es Mascha? Was machen ihre Liebesangelegenheiten? Ist sie endlich zu sich gekommen, hat sie begriffen, daß sie sich selbst und ihre Reputation retten muß? [...]
Deinen Toulon-Artikel 91 möchte ich bei Suttner 92 veröffentlichen lassen, weil er so als Protest gegen den Krieg aufgefaßt werden wird und nicht als persönliche Stellungnahme; so werden weder die Franzosen noch die Russen einen Grund haben, beleidigt zu sein, und dies ist immer besser. [...] Nun also, lebe wohl, es ist Zeit, zum Ende zu kommen. Ich küsse Mascha und Vera 93 . Ich gehe nun zu Bett, sonst bin ich immerfort müde und matt. Schreibe mir bald wieder.
S. Tolstaja.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
[25. Oktober 1893]
[Moskau]
Heute morgen ließ Dunajew uns Eure Briefe bringen, liebster Freund Ljowotschka und liebe Mascha, am Abend kam er selbst auf einen Sprung vorbei und berichtete uns, daß Ihr gesund und munter seid, was mich sehr freute. Auch uns geht es, Gott sei es gedankt, bisher sehr gut. Ljowa geht es besser, heute sagte er, er fühle sich wieder ganz gesund, doch das ändert sich bei ihm ja immer sehr rasch. [...]
Ich schicke Dir, lieber Ljowotschka, heute als Drucksache eine Zeitschrift aus Genf, in der ein Artikel über Dein neues Buch 94 zu lesen ist; vielleicht wird er Dich interessieren.
Deine Anteilnahme an meinem gesundheitlichen Zustand rührte mich sehr. Ich fühlte mich die ganze letzte Zeit sehr schlecht, der rote Ballon 95 , wie Du früher bisweilen zu sagen pflegtest, hat schnell an Luft verloren und wurde faltig, doch jetzt geht es mir seit
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