Eine eigene Frau
sie denn nicht, in welche Gefahr sie Arvi mit ihren Briefen brachte?
Offenbar nicht. Als Absender wurde das Karolinische Institut genannt, und zur Tarnung enthielten die Umschläge Lehrmaterial mit Schriften über Buchhaltung oder Volkswirtschaft. Nora glaubte bestimmt äußerst geschickt vorzugehen, auch indem sie als absendende Person eine geheimnisvolle Frau Leonora Holmqvist angab.
Die alten Malmbergs ließen sich mit diesem Trick freilich täuschen. Zu Arvis großer Verblüffung glaubten sie tatsächlich, der Junge wolle sich mit Hilfe schwedischer Sprachkurse weiterbilden. Sie fingen sogar an, damit ein bisschen zu prahlen. Immerhin war Arvi schon immer fleißig gewesen und hatte auch die Pferdeschule des Guts seinerzeit als Bester absolviert. Wer wusste, wie weit es ein so rühriger Junge in diesem Leben noch bringen würde?
Olga aber ließ sich nicht täuschen. Sie schnaubte provozierend spöttisch beim Blättern der Lehrbroschüren.
»Scheckgesetzgebung … Die Metallschätze Boliviens … Der internationale Postgiroverkehr … Die Genossenschaftsbewegung in Argentinien und Serbien … Ja, ja, ganz bestimmt. Ich weiß, welches die Schätze und Genossenschaftsbewegungen sind, die den Jungen interessieren, die befinden sich samt und sonders unter den Röcken von Frauenzimmern.«
Was auch den Tatsachen entsprach.
Aber musste Olga unbedingt immer alles laut aussprechen und auch noch so derb? In der Antwort auf diese Frage war Arvi mit Tante Elin absolut einer Meinung.
Olgas ordinäre Art, so unflätig wie ein Stallknecht daherzureden, ärgerte den Jungen in letzter Zeit immer mehr. Während er sich für seine Tante schämte, ließ er nur zu gern den Gedanken an Noras tollkühnes Hirngespinst von seiner verheimlichten Abstammung zu. Diese kindlichen Vermutungen griff sie nämlich in ihren Briefen erneut auf. Sie fand, Arvis stolze Opferbereitschaft sei ein starker Beweis dafür, dass er kein beliebiger armer Waisenjunge war, sondern eindeutig ein Bastard edleren Ursprungs.
Ja, Nora hatte zu ihrem Vergnügen das Aussehen und Verhalten einiger hochrangiger Personen, die im Herrenhaus zu Besuch gewesen waren, studiert. Und in der Tat hatte sie an Arvis Wesen gewisse hochinteressante Gemeinsamkeiten mit einem bestimmten Geschlecht entdeckt, dessen Namen sie aus Gründen des Taktgefühls vorläufig noch nicht zu Papier bringen wollte.
Wesen?
Arvi wollte nicht glauben, was er da las. Bis zum Eintreffen von Noras Briefen hatte er kaum zu träumen gewagt, dass ein Mädchen ihm auch nur die geringste Beachtung schenken könnte, geschweige denn ein »Wesen« in ihm erkannte. Dass eine junge Frau wie Nora dies tat, war ein reines Wunder. Sie dachte an ihn also nicht als der Junge, der General Mannerheim auf die Stiefel gekotzt hatte, sondern als Mann von edler Abstammung, der nur auf die Gelegenheit lauerte, sein Leben für das Vaterland herzugeben.
Ihm kam in den Sinn, dass Noras Briefe in gewisser Weise das Märchen wahr werden ließen, in dem das schöne Mädchen einen Frosch zum Prinzen küsste. Es war ein Wunder geschehen, und den Zauberstab hatte ein Hexenmeister namens Anders Holm geschwungen.
Arvi öffnete die Säcke und leerte ihren Inhalt in die Verschläge. Ja, man muss zugeben, dass der Frosch ein Frosch geblieben wäre, wenn nicht der unausstehliche Anders Holm das bezaubernde Mädchen mit Lügen überschüttet hätte. Wahrscheinlich hatte er das zum Teil nur getan, um sich auf Arvis Kosten einen Scherz zu erlauben, andererseits aber auch, um seine eigene Glaubwürdigkeit zu festigen. Der Junge ist zweifellos verrückt nach Nora und will inständig und mit allen Mitteln Eindruck auf sie machen.
Wer wollte das nicht?
Anders hatte sie wohl auch dazu überredet, nach Finnland zu schreiben, und dabei die Gefahren der Zensur heruntergespielt. Sicherlich hatte er sich nicht einen Moment lang den Kopf darüber zerbrochen, dass jeden Tag die Gendarmen kommen und Arvi Malmberg ehe er sich’s versieht ins unterste Verlies des Gefängnisses Kakola werfen konnten. Das käme Anders Holm bloß gelegen. Es würde die Wirkung seiner erfundenen Geschichten nur noch steigern.
Und womöglich durfte sich das fluchende schwedische Arschloch während der Reitstunden anhören, welche Ausmaße die Tapferkeit des Arvi Malmberg in Noras Fantasie bereits angenommen hatte, sodass er, wenn es nach Anders ginge, gut und gern im Gefängnis landen durfte, damit die Ratten an ihm nagten.
Aber an diese Möglichkeit will Arvi
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