Eine eigene Frau
liegt er schon eine Weile zurück, und Saidas Gedanken drehen sich um ihre Familie und vor allem um den kleinen Usko.
Aber was nützt das alles, wenn Arvi selbst nicht vergessen kann. Jedes Mal wenn er Saida begegnet, wird das Geschehen von jenem Tag am Waschufer wieder in ihm aufgerollt. Und wenn er an Saida denkt, fällt ihm auch alles andere ein, was zuvor passiert war: das gemeinsame Verstecken mit Nora im Kasten der Brücke, der Säbel und die Stiefel von General Mannerheim, das Klettern nach den Vogeleiern in der höchsten Kiefer. Vor Arvis Augen wiederholt sich der immer gleiche Albtraum.
Abschließend sieht er jedes Mal das Gespenst der Vergangenheit ein weibliches Kleidungsstück an einem Stock schwenken. Er kann das Unrecht im Traum nicht verhindern, und nachdem er aufgewacht ist, weiß er, dass er die Schändung seiner Kindheitsfreundin auch im wirklichen Leben und im Wachzustand nicht hat verhindern können. Darum hat er das Gefühl, Saida nie mehr in die Augen sehen zu können.
Arvi stapelt die Kisten mit dem Gemüse dicht nebeneinander auf.
Der Teufel soll Anders Holm holen!
Der Teufel soll diesen Anders Holm holen, dem Nora, wie sie in ihren Briefen schreibt, inzwischen Reitstunden in Stockholm gibt.
Und der dabei angeblich ordentlich Fortschritte macht.
Der sich einen Reitanzug hat anfertigen lassen, der an eine Militäruniform erinnert. Einen höchst eindrucksvollen, wie Nora findet.
Und der veranlasst hat, dass Nora Briefe an Arvi schreibt.
Als er den ersten Brief erhielt, glaubte Arvi, das sei nur ein seltsamer Scherz, und aus der Sicht von Anders mag es das wohl auch gewesen sein, aber in den folgenden Briefen ließ Noras Ton keinen Irrtum mehr zu.
Die Sache war die: Das Herz des Mädchens, das väterlicherseits finnischer Abstammung war, hatte angefangen, kräftig für das Vaterland zu schlagen. Jeder Mann, der bereit war, für die Rettung Finnlands aus den Klauen Russlands eine Bresche zu schlagen, war in Noras Augen ein Held.
Und zwischen den Zeilen stellte sich heraus, dass nicht nur Anders Holm im Begriff war, rasch ein solcher zu werden. Anders hatte Nora zu verstehen gegeben, dass Arvi in Finnland als eine Art Kontaktmann bei der Anwerbung von Kandidaten für das Jägerbataillon tätig gewesen sei. Überdies lebte das Mädchen in dem Glauben, Arvi wolle selbst nach Deutschland zur Militärausbildung, sobald er das 18. Lebensjahr vollendet habe.
Nora bewies in ihren Briefen profunde Kenntnisse in allem, was die sogenannten Jäger betraf. Sie wusste, dass das 27. Kaiserlich-preußische Jägerbataillon, das aus finnischen Freiwilligen bestand, inzwischen eine Maschinengewehrkompanie sowie drei Gewehrkompanien umfasste. Außerdem gehörten eine Pionierkompanie und eine Feldhaubitzenabteilung dazu.
Über die Zusammensetzung der Jäger hatte sie Aufschluss erhalten, indem sie heimlich in den Papieren im Arbeitszimmer ihres Onkels Gummerus geblättert hatte. Sie berichtete jedoch, auch von Anders, mit dem sie mittlerweile regelmäßig reiten übe, etwas über die Kämpfe der Jäger erfahren zu haben.
Sie behauptete, die finnischen Jäger seien in Schlachten des Ersten Weltkriegs verwickelt worden. Man habe sie an die Bucht von Riga verlegt, an den äußersten Flügel der deutschen Ostfront, und nun verfolgte Nora angespannt die Meldungen über Verluste und Verletzte. Sie denke unablässig an die Leiden des Bataillons, unter widrigen Bedingungen, bei 25 Grad minus und miserabler Unterkunft. Sie habe geradezu ihren Nachtschlaf verloren, schrieb sie.
Unablässig, unablässig …
Ihr kamen brieflich die Tränen, als sie von den Ereignissen in Simo erzählte, am See Maaninkajärvi. Dort sei im Dezember ein junger Jägerkandidat im Feuergefecht gefallen. Nora hatte den tapferen Jüngling nicht gekannt, fand aber, er müsse als erster Heldentoter im ersten offenen Kampf zwischen Finnen und Russen nach 108 Jahren in die Annalen eingehen.
Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie es Arvi hätte ergehen können, wäre er einer jener jungen Männer gewesen. Ihr Tränenfluss wäre gewiss niemals versiegt, da sie Arvi doch von Kindheit an kenne.
Tränenfluss?
Beim Lesen der Briefe konnte sich Arvi nichts anderes vorstellen, als dass Nora es zwar ernst meinte, aber irgendwie verrückt geworden war. Solche Briefe zu schreiben war an sich schon seltsam, doch sie mit der Post nach Finnland zu schicken war blanke Unvernunft. Ein Wort wie Kriegszensur schien ihr vollkommen fremd zu sein. Begriff
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