Eine eigene Frau
fängt häufig ein Türklinkengespräch an, wenn der Maurer gehen will.
In dieses Gespräch packt sie alles hinein, was sie auf dem Herzen hat. Da darf man sich dann Eheprobleme anhören, Geschichten von den Eltern und Großeltern, ganze Familiensagas. Überraschend oft scheinen sich Glück und Unglück einer Familie um den Ofen herum zu kristallisieren. Aber was ist daran schon erstaunlich? Ein anständig gemauerter Ofen hält leicht fünf Generationen.
Auch das Türklinkengespräch bei Marja Rusanen konzentrierte sich auf ihre Familie. Sie hatte finnische Wurzeln und war äußerst patriotisch. Männer aus ihrer Verwandtschaft hatten sowohl in Halikko als auch in Salo das Schutzkorps gegründet.
Es wurmte sie, wie jetzt alle möglichen Sachen ausgegraben und in alten Wunden gestochert werde. Finnland habe im Winterkrieg zur Einheit gefunden, und darin bestehe die wichtigste historische Errungenschaft des Landes, sagte sie. An dieser Einheit müsse man festhalten. Warum sei es nötig, mehr als 90 Jahre alte Gräber zu öffnen? Solche Gräber gebe es auch in ihrer Familie. Ein Onkel sei 1944 auf der Karelischen Landenge im Feld geblieben. Auf dem Heldengrab in Salo stehe ein Kreuz, aber unter dem Kreuz liege niemand. Die Leiche des Onkels sei irgendwo da drüben, jenseits der Grenze, und das habe für ihre Großmutter lebenslang Trauer und Schmerz bedeutet, aber sie habe sich nie beklagt.
Dann ging sie dazu über, auf die Wissenschaftler zu schimpfen, die all ihre Aufmerksamkeit auf die Schicksale der Roten richteten. Auch die Literatur habe seit Väinö Linna ein vollkommen verzerrtes Bild von der Befreiung des Landes konstruiert. Warum schreibe niemand aus der Sicht des legalen Finnlands einen großen Roman über jene Zeit?
Auf dem Nachhauseweg dachte ich über die Literatur nach, die das Jahr 1918 hervorgebracht hatte. Ich habe mich genug damit beschäftigt, um zu wissen, was es für Befreiungskriegsbücher aus der Sicht der Sieger gibt. Marja Rusanen hatte unrecht mit ihrer Behauptung, eine solche Literatur habe es nicht gegeben. Es hat verdammt viel davon gegeben.
Die Frage lautet, warum sie nicht überdauert hat.
Nach der Auseinandersetzung mit Marja Rusanen setzte ich mich zu Hause hin und fasste schriftlich alles zusammen, was ich gelesen, erforscht und gehört hatte. Ich ging noch einmal in die Internetdatenbank des Nationalarchivs, um die Zahl der Opfer des Jahres 1918 in Halikko zu überprüfen und nachzusehen, was über die jeweiligen Toten bekannt war. Außerdem suchte ich nach weiteren Informationen über das im Frühjahr 1918 aktive Schärenfreikorps und landete auf einer Homepage, auf der das Thema diskutiert wurde. Dort war die Auseinandersetzung noch heftiger als die zwischen mir und Frau Rusanen.
Ein unversöhnlicher Diskutant mit dem Pseudonym »Namenlos« schien sich sehr gründlich mit den Aktivitäten des zum größten Teil aus Schweden zusammengestellten Korps in Südwestfinnland beschäftigt zu haben. Ihm zufolge war die Truppe, angeführt vom Leutnant Ehrensvärd, von Turku aus in Richtung Forssa aufgebrochen und auf dem Weg vielerorts als Ankläger, Richter und Henker zugleich aufgetreten. Oft schien allein die Sprache Grundlage für ein Urteil gewesen zu sein: Konntest du kein Schwedisch, konntest du das Leben verlieren. »Namenlos« behauptete, es habe mehr als 400 Opfer gegeben. Der Marsch der Schärensoldaten habe in Lahti geendet, wo sie noch 50 Frauen vergewaltigt und erschossen hätten, die jüngsten wären Mädchen von gerade mal 16 Jahren gewesen.
In Internetforen kann man unter dem Schutz eines Pseudonyms behaupten, was man will. Die Beiträge von »Namenlos« spiegelten die bittere Tradition der linken Arbeiterbewegung wider. Andererseits stützte er sich an mehreren Stellen auf die Studien von Tauno Turkkinen, den ich als zuverlässigen Autor schätzen gelernt habe. Jedenfalls kennt er keine ideologischen Ressentiments. Der Mann ist Mathematiker und geht auch an skandalträchtige Dinge mit der Kühle des Naturwissenschaftlers heran.
Nach allem Lesen, Forschen und Befragen beschlich mich das Gefühl, dass es in der Freiheits- und Klassenkampfliteratur und sogar in der historischen Forschung zum Jahr 1918 eine Art schwarzes Loch oder doch wenigstens eine graue Zone gab: die ländliche Region in Südwestfinnland, die Heimat meiner Großeltern. Es war äußerst schwierig, eine Studie zu finden, die wissenschaftlichen Kriterien entsprach und sich damit befasste, was in
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